Queen Victoria, Kaiser Wilhelm und der Brexit
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Eine Aufnahme aus dem Jahr 1862. Oma Queen Victoria mit ihrem ersten Enkelkind, dem späteren Kaiser Wilhelm II.
© Quelle: united archives
Potsdam. Als die englische Königin 1901 auf ihrem Sommersitz in Osborne House stirbt, hält sie der deutsche Kaiser im Arm. Dabei hatte Königin Victoria in ihrem Testament ausdrücklich vermerkt, dass ihr Enkel Wilhelm auf keinen Fall an ihr Sterbebett herantreten dürfe. Sie hat ihn gehasst. Doch ihr Leibarzt gibt nach. Vierzehn Jahre später führt der Enkel gegen das Land seiner Oma Krieg.
Familiäres Netzwerk
Das Konzept der britischen Königin ist nicht aufgegangen. Obwohl sie acht ihrer neun Kinder an europäische Königshäuser verheiratete, brachte das familiäre Netzwerk Europa keinen Frieden. Im Gegenteil, es kam zum Ersten Weltkrieg und dem Ende vieler Monarchien.
Zwei aktuelle Biografien
Dennoch wird Königin Victoria dieses Jahr intensiv gefeiert. Sie wurde am 24. Mai vor 200 Jahren von ihrer deutschen Mutter im Kensington Palace geboren. Eine aufwendige BBC-Serie erzählt ihr Leben nach. Auch zwei Biografien sind in deutscher Sprache erschienen. Beide beschäftigen sich mit der Selbstinszenierung der britischen Königin, die 63 Jahre das demokratisch gewählte Parlament beriet, dessen Entscheidungen gegenzeichnete, Gesetze vorschlug und Bischöfe ernannte.
Verhinderte irische Selbstverwaltung
Dem Frauenwahlrecht stand Victoria feindlich gegenüber, nationale Selbstbestimmung galt ihr nichts und zur Verteidigung ihres Empires trieb sie zu blutigen Kriegen. Ganz besonders heftig lehnte sie die Selbstverwaltung Irlands ab. Eine Neuverteilung des irischen Bodens schien ihr undenkbar. Ihrem Widersacher Premierminister William Gladstone verhagelte sie 1886 sogar ein geniales Gesetz, das Irland die innenpolitische Selbstverwaltung ermöglicht hätte, indem sie hinterrücks für eine Spaltung der Torys sorgte. Hätte Gladstone gesiegt, gäbe es heute vermutlich keine Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Der Brexit wäre dann kein Problem – ob mit oder ohne Zollgemeinschaft.
Intellektuelle Schwärmer fürs Königtum
Die australische Journalistin Julia Baird porträtiert Victoria aus familiärer Perspektive und mit einem Faible für royalistischen Pomp. Die englische Ausgabe trägt den imperial anmutenden Titel: „The woman who shaped the modern world“ (Die Frau, die die moderne Welt formte). Auf dem Buchdeckel der deutschen Ausgabe steht dagegen unverfänglich: „Das kühne Leben einer außergewöhnlichen Frau“. Diese Vorsicht wäre gar nicht nötig. Denn der eigentliche Gewinn der Biografie besteht darin, dass hier einmal vorführt wird, wie aufgeklärte Intellektuelle bis heute fürs Königshaus schwärmen.
Intervention aus Australien
Als erfahrene Kolumnistin vermag Baird den immensen Stoff einfach und spannend zu erzählen, indem sie auch Identifiationsmöglichkeiten anbietet. Sie belegt ihre Quellen, zitiert gern und es lohnt sich, ihre Fußnoten zu lesen. Dazu hat sie tausende Dokumente gelesen. Das war nicht einfach, denn der Zugang zum königlichen Archiv in Windsor ist ein Privileg. Erst nach Intervention der australischen Generalgouverneurin durfte Baird Victorias Briefe und Notizbücher einsehen.
Prinz Albert sorgte für Sittenstrenge
Königin Victoria rückt dem Leser erstaunlich nah. Schon mit elf Jahren begreift sie, dass sie wahrscheinlich Königin wird. Mit 18 Jahren übernimmt sie die Macht über ihr Königreich, mit 19 Jahren heiratet sie Prinz Albert aus Sachsen-Coburg. Dann kommen die Kinder und sie teilt ihre Macht 21 Jahre lang. War sie eine lustvolle Gattin, aber desinteressierte Mutter? Liebte sie ihre Kinder über das damals übliche Maß hinaus? Baird diskutiert solche Fragen detailreich und entlarvt, dass Prinz Albert die viktorianische Sittenstrenge kultiviert hat. Familiensinn, Sparsamkeit und eheliche Treue lagen Albert besonders am Herzen. Das bürgerliche Weihnachtszimmer war seine Erfindung.
Luxus überblendet die Katastrophen
Baird geht achtsam mit der Königin um. Einfühlsam beschreibt sie Victorias charakterlichen Widersprüche. Die Welt der Monarchin fühlt sich an wie ein luxuriöses Wohnzimmer. Extreme Armut, Kinderarbeit, Massensterben und blutige Kriege wirken wie Katastrophen, die im englischen Nebel hinter schön geschwungenen Fenstern weniger dramatisch erscheinen.
Umwälzungen des 19. Jahrhunderts
Baird schildert die großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts und kontrastiert sie mit der Selbstinszenierung der Königin als „häuslich und weiblich fügsam“. Tatsächlich war Victoria eine „zähe, streitbare Herrscherin“. Nachdem Albert 1861 starb, betätigte sie „die Schalthebel der Macht versierter als die meisten Männer in ihrem Umkreis“, urteilt Baird. Wie mächtig war die Königin tatsächlich? In welchen Fällen trug sie konkret Verantwortung? Baird bleibt unscharf. Sie schildert Victorias Positionen im Krim-, im Afghanistan-, im Südafrika-Krieg, nicht ihre tatsächlichen Handlungen.
Revolution blieb aus
Warum erlebte Großbritannien 1848 keine Revolution, während im übrigen Europa die Menschen auf die Straße gingen? Weil die konstitutionelle Monarchie dem britischen Staat Stabilität verlieh, lautet Bairds Antwort. Doch Baird verschweigt, dass die britische Regierung Aufständen im eigenen Land durch geschickte Verhaftungswellen zuvorkam. Der Leidensdruck der einfachen Leute blieb enorm. In Irland fehlte den hungernden Massen schlichtweg die körperliche Kraft.
Irland-Frage unterbelichtet
Die deutsche Historikerin Karina Urbach arbeitet sehr viel analytischer, verfällt aber manchmal in einen flapsigen Stil. Ihre Biografie verzichtet auf royalistisches Dekor und fragt sehr gezielt nach Victorias politischer Einflussnahme. Leider verzichtet der Verlag C.H. Beck auf Fußnoten und die Seitenzahl ist zu knapp bemessen, um ins Detail zu gehen. Die Irland-Frage wird in beiden Büchern nicht ausreichend beleuchtet, wobei Julia Baird immerhin den neuesten Forschungsstand im Auge hat.
Besuch in Preußen
In Preußen taucht Königin Victoria nur ein einziges Mal persönlich auf, 1888. Ein kleines Zeitfenster macht dies möglich. Für 99 Tage regiert ihr liberaler Schwiegersohn Fritz das deutsche Kaiserreich. Allerdings steigt sie in keinem der Potsdamer Schlösser ab, sondern im komfortableren Schloss Charlottenburg, wo sie „den alten Bismarck“ empfängt, den sie als reaktionär und russenfreundlich verachtet. Der seufzt beim Rausgehen begeistert: „Mein Gott! Was für eine Frau! Mit der könnte man arbeiten!“
Sie hasste nicht nur ihren Enkel
Und warum bekämpfte Königin Victoria so eisern die Selbstverwaltung Irlands? Nach Lektüre beider Biografien denkt der Leser sofort an den imperialen Herrschaftsanspruch Königin Victorias. Ihr Reich durfte auf keinen Fall schrumpfen. Doch noch ein anderer Verdacht drängt sich auf: Königin Victoria hasste noch einen Menschen mehr als ihren preußischen Enkel: den Vertrauten ihrer Mutter, der ihre Kindheit eisern beherrscht hatte: Sir John Conroy, ein Ire.
Julia Baird: Queen Victoria. Das kühne Leben einer außergewöhnlichen Frau. Wbg/Theiss, 597 Seiten, 34 Euro.
Karina Urbach: Queen Victoria. Die unbeugsame Königin. C.H. Beck, 284 Seiten, 24,95 Euro.
Von Nathalie Wozniak
MAZ