Wie Michael Kröchert mit einem Floß über märkische Seen schippert, um sich und die Welt neu kennenzulernen
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Der Autor Michael Kröchert.
© Quelle: privat
Potsdam. Über die Havelseen und die Brandenburgischen Seenplatten ziehen im Sommer viele private Wasserfahrzeuge. Wer träumt nicht davon, selbst einmal mit einem Segel-, Motor- oder Hausboot in „Märkisch Polynesien“ für ein paar Tage oder Wochen auf Tour zu gehen?
Der Ich-Erzähler in diesem Roman nutzt ein selbstgebautes Floß südöstlich von Berlin. Um dafür nachträglich eine Zulassung zu erhalten, wird Aussteiger-Kapitän Rio auf den letzten Seiten des Buches auf dem Schifffahrtsamt Berlin vorstellig: „Ich möchte auf der schwimmenden Anlage, die ich mir selbst baue, dauerhaft wohnen. Manchmal auch damit herumfahren“, sagt er. Die Antwort ist niederschmetternd: „Kein einziges Hausboot wird mehr in Berlin oder Brandenburg zugelassen.“ Es gebe keine Liegeplätze mehr. Eigenbau sei ohnehin verboten. Und stünde mal ein Hausboot mit Liegeplatz zum Verkauf, dann würden Summen um die 300.000 Euro aufgerufen.
Der Autor
Michael Kröchert wurde 1975 in Hildesheim (Niedersachsen) geboren. Er studierte Drehbuchschreiben an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg.
Er arbeitete als Fotograf und schrieb Reportagen. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Autobahn. Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum“ (2020).
Michael Kröchert: Wasserläufer. Roman. Tropen, 358 Seiten, 25 Euro.
Die Dahme heißt im Buch „Lahne“
Hätte sich Rio an Recht und Gesetz gehalten, wäre sein Ego-Trip auf einer schwimmenden Insel gar nicht möglich gewesen. Der Drehbuchschreiber und Journalist Michael Kröchert war 2021 wirklich mehrere Wochen auf der Dahme unterwegs. Der Mittfünfziger hat diese Erfahrung in seinen Debütroman „Wasserläufer“ einfließen lassen. Im Buch heißt der Fluss „Lahne“.
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Der Autor auf seinem Floß.
© Quelle: privat
Der Ich-Erzähler möchte dem Hamsterrad entkommen
Im Mittelpunkt steht ein 40-jähriger Stadtneurotiker, der „Weite, Stille und Abstand“ sucht, den Rückzug in die Einsamkeit der Natur. Der Fotoredakteur möchte dem Hamsterrad entkommen, der wichtigtuerischen Hektik in seiner Redaktion, den „Netflix-Orgien“ und dem „Kriegs-Newsticker auf Spiegel Online“. Er entflieht seiner Wohnung in Berlin-Neukölln, will sich über seine Zukunft mit Alissa klarwerden, die sich für ihre Promotion vorübergehend nach Frankfurt am Main abgesetzt hat. Die Zumutungen der Corona-Pandemie stecken Rio noch in den Knochen und das Virus auch. Der Leser ist dabei, wenn sich sein Geruchssinn zurückmeldet und Rio mit seiner Nase plötzlich Sprengstoff wahrnimmt. Den Geruch kennt er, weil er als Rabauke mal Knaller mitgebastelt hat.
So einfach lässt sich ein Floß bauen
Auf dem Wassergrundstück einer Tante baut sich Rio ein illegales Floß, „eine ganz simple Konstruktion“. Vier große leere Wassertonnen unter den Ecken sorgen für Stabilität, ein Dach über der Plattform schützt gegen Regen und ein 2 PS-Außenbordmotor sichert die Beweglichkeit.
Er tuckert durch die Wasserstraßen, wirft auf dem Soliner See Anker und scheint gefunden zu haben, was er suchte. Er liest viel (Bücher über Nonkonformisten wie ihn), dichtet Haikus, putzt die Zähne mit Bio-Zahnpasta, kocht sich Nudeln und denkt über Freiheit nach. Als er eine Holzlatte ersetzen muss, lernt er Birk kennen, einen einheimischen Handwerker, Biobauern und Klimaaktivisten, bald auch dessen Schwester und Vater. Rio schwärmt von Brandenburgs Schönheit, der Abenddämmerung und dem Sternenhimmel und sagt: „Ich finde es hier schöner als auf den Kanaren oder auf Sardinien.“ Birk antwortet: „Du meinst die Ruhe vor dem Sturm? No way, ist ‘ne trostlose Gegend hier.“
Wutbürger und Anarcho-Grüne
Immer mehr Menschen tauchen in Rios neuem Gesichtskreis auf. „MotorMän“ scheint ein widerlicher rechtsradikaler Ossi-Versteher aus Westberlin zu sein, der mit seiner lauten Motoryacht die Idylle stört. „Kein Polizist, kein Soldat, den ich kenne, würde noch freiwillig für dieses Land kämpfen“, schimpft dieser Unhold wie ein Dämon. Birks anziehende Schwester Johanna entpuppt sich als vielleicht sogar gewaltbereite Anarcho-Grüne und ihr Vater Ludger als frustrierter Wutbürger. „Der Staat schütze ,nur noch Schwule, Lesben und Zigeuner. Errichtet ihnen überall Denkmäler‘“ schwadroniert der.
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Wenn Kajaks den See durchziehen, stellt sich immer die Frage: „Urlauber oder Aussteiger?“ Das Panoptikum erfährt durch Jost und Magda eine extreme Ausweitung. Der großbourgeoise Lifestyle-Linke und die Künstlerin aus Westberlin halten auf einem 18 Meter langen holländischen Binnenschiff mit flachem Kiel Hof. Sie wollen nicht abgehoben erscheinen, sondern Ossis und Wessis, Linken und Rechten, „Leuten aus der Gegend und aus verschiedenen sozialen Milieus“ ohne Vorurteile begegnen. Jost möchte sie alle zu seinem 60. Geburtstag an Bord begrüßen und Rio soll ihm dabei helfen.
„,Das ist ja der Waaahnsinn, euer Schiff. Wie von so ‚nem Oligarchen von Bündnis 90/Die Grünen‘, und alle lachten“, heißt es dann zur Feier des Tages. Vergeblich haben die Utopisten versucht, die Welt zum Beispiel in Mittelamerika zu retten. „Jetzt retten wir die Kultur in Brandenburg“, erklärt Magda.
Ich-Erzähler Rio: „Ich glaubte an die Schönheit der Seerosen, an die Flügel der Libellen, an Mückenstiche...“
Der Bekenntniszwang („Wofür stehst du, wofür lebst du?“) nervt den Weltflüchtling Rio irgendwann nur noch. Ironisch heißt es: „Ich glaubte an die Schönheit der Seerosen, an die Flügel der Libellen, an Mückenstiche, ich glaubte an Alissas Brüste, an Schokolade von der Autobahnraststätte…“ Deshalb flieht er für eine Zeit mit seinem Floß auf den Fernower See. Doch in der gewählten Einsamkeit verliert sich Rio. Beim Versuch, auf den Grund zu tauchen, geschieht ihm ein dummer Unfall. Statt Erleuchtung zu finden, trinkt er bald nur noch viel Bier, um sich selbst zu betäuben.
Kröchert hat einen Gesellschafts-, Brandenburg- und Sommerroman geschrieben, der von der Schwierigkeit handelt, ein besseres Leben zu führen und sich selbst zu finden. Leider hat sich der Autor damit nicht begnügt. Zu dem ziemlich holzschnittartig dargestellten Personal, das seinen Roman bevölkert, versucht er auch noch, Action zu konstruieren. Ein Mordanschlag auf MotorMän im Nachbardorf ist offenbar missglückt, aber es gab einen unschuldigen Toten. Nachdem es dann noch einmal in Berlin gerummst hat und auch die Polizei anrückt, zieht sich der Erzähler auf seine vagen Positionen zurück. So endet der Roman: unentschieden.
MAZ