Nell Zink, Angelika Klüssendorf, Lutz Seiler... – Brandenburg liest in der Potsdamer Villa Quandt
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Brandenburg liest: Anglika Klüssendorf und Gisbert Amm am Sonnabend im Garten der Villa Quandt.
© Quelle: Bernd Gartenschläger
Potsdam. Keiner raucht. Angelika Klüssendorf ist irritiert. Früher hätte es das nicht gegeben. Sie wollte heute eigentlich auch nicht und hat die Zigaretten absichtlich zuhause gelassen. Aber jetzt, da sie im Garten der Villa Quandt steht, wo sie gleich lesen soll, hätte die Kachnitz-Preisträgerin doch gern eine.
Der Andrang war groß am Samstagabend beim der mittlerweile schon fast traditionellen Lesung „Brandenburg liest“. Seit Jahren wird das Format im Sommer vom Brandenburger Literaturbüro veranstaltet. Eingeladen werden ausschließlich Autorinnen und Autoren, die in Brandenburg leben – und möglichst unterschiedliche Literaturgattungen vertreten. Rund 200 Gäste waren gekommen.
Lyriker Gisbert Amm beginnt mit Nikotin
Aber keine Zigarette, nirgends. Und dann noch der aus Joachimsthal (Barnim) angereiste Lyriker Gisbert Amm, der seine Lesung gleich mit einen Nikotingedicht einleitet. „Bring Zigaretten mit./Am liebsten Cabinett,/wenns die nicht gibt, F6,/wenn sie die auch nicht haben -/Semper.“. Es geht ums Bierholen für den Vater. Der ursprünglich aus Thüringen stammende Poet hat Jahrelang in der Schorfheide ein Lyrikhaus betrieben und liebt es, mit der Sprache zu spielen, verwandte Silben aneinander zu ketten. Und wenn dann Corina in Chorin kein Corona bekommt, dann ist klar, dieser Mann ist um keinen Kalauer verlegen.
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„Brandenburg liest“. Rund 200 Literaturinteressierte kamen zum diesjährigen langen Abend der Brandenburgischen Literatur in den Garten der Villa Quandt.
© Quelle: Bernd Gartenschläger
Klüssendorf ist noch immer ohne Zigarette und zudem irritiert. Denn eigentlich wollte sie aus ihrem Roman „Vierundreißigster September“ lesen. Aber auf dem Programm steht „Das Mädchen“ von 2011. Wie alle, die am frühen Abend auf dem Podium sitzen, kämpft sie mit der Sonne, die direkt von vorne blendet.
Angelika Klüssendorfs Horrorgeschichte eines Mädchens in der DDR
Doch es gibt Schlimmeres – wie ihre Geschichte über den Alltag einer Zwölfjährigen in einem DDR-Plattenbau in den 80-er-Jahren schnell klar macht. Mit dem kleinen sechsjährigen Bruder ist sie in die Bude eingesperrt, mit einer meist besoffenen, prügelnden Mutter, der Vater ist abgehauen. Wenn die sadistische Mutter die Kinder zwingt, in Peperoni zu beißen, und sich dann über die Tränen der Kinder schlapp lacht, dann hilft nur noch die Flucht in die Fantasie oder eben selbst austeilen – gegen den kleinen Bruder, oder gegen sich selbst.
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Klüssendorf liest nun doch noch ein Kapitel aus „Vierundreißigster September“ über den Hausarzt „Dr. Kies“ – und demonstriert, dass der Horror auch im gut situierten Bürgertum lauert. Das Publikum braucht danach erst mal Stärkung. Die Schlangen vor Cremont-Sekt, Quiche Lorraine, Lachs-Wooper und Stullen werden immer länger. Nell Zink, die nun lesen soll, muss warten, bis alle bedient sind. Und Angelika Klüssendorf hat noch immer niemanden gefunden, der Zigaretten hat.
Nell Zink über die postmoderne Klassengesellschaft
Als Nell Zink endlich lesen darf, nimmt sie die Sache selbst in die Hand und zieht die für die spätere Dunkelheit installierte Lampe einfach so weit vor ihr Gesicht, dass sie nicht mehr in die Sonne gucken muss. Auch die US-amerikanische Autorin aus Bad Belzig hat die Geschichte eines Mädchens mitgebracht. In ihrem gerade erschienenen Roman „Avalon“ erzählt sie mit hinreisender Ironie von einer jungen, mittellosen Frau, die sich in einen intellektuellen Blender von der Uni verliebt. Eine Blick auf die postmoderne Klassengesellschaft.
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Die in Bad Belzig lebende US-amerikanische Autorin Nell Zink mit ihrem gerade auf deutsch erschienen Roman.
© Quelle: Bernd Gartenschläger
Als Lutz Seiler aufs Podium steigt, zieht Angelika Klüssendorf entspannt an einer Zigarette. Seiler, Leiter des Huchl-Hauses in Wilhelmshorst, hat gerade den Brechtpreis der Stadt Augsburg erhalten und erzählt von seinem gespaltenen Verhältnis zu dem Großautor, dessen „Vorwärts und nicht Vergessen“ ihn leider an seie NVA-Zeit erinnere, wo auf die Silben von „So-li-da-ri-tät“ marschiert werden musste.
Der rhythmische Sound von Lutz Seiler
Aber immerhin liebte Brecht Hunde, räumt er ein. Ein Grund für Seiler an diesem Abend nur Gedichte vorzutragen, in denen Hunde eine Rolle spielten. 27 hat er in seinen Repertoire gefunden. In einigen kommen die Hunde der DDR-Grenzer vor, die in der Wilhelmshorster Diensthundeführerschule zur Bewachung der Berliner Mauer ausgebildet wurden. Das merke man dem Ort noch heute manchmal an, findet er. „Die Rüden lächeln durch die Jägerzäune“, heißt es in einem Gedicht über einen Spaziergang durch Wilhelmshorst, das der Autor im gewohnt rhythmischen Seiler-Sound vorträgt.
Danach blendet die Sonne nicht mehr. Der Potsdamer Schauspieler Fabian Hinrichs beginnt seine Lesung mit einer Textzeile von der britischen Band „The Smiths“: „Everyday is like Sunday“. Es geht ihm darum, was eine „ästhetischen Erfahrung“ besonders macht. Auf dem Programm stehen noch Auszüge aus der deutschen Version von „Victory City“, dem jüngsten Roman von Salman Rushdie – sie stammt von dem bei Fehrbellin lebenden Übersetzer Bernhard Robben – und das Buch „Tote Winkel“ der Potsdamer Krimiautorin Sophie Sumburane. Angelika Klüssendorf hat inzwischen noch jemanden gefunden, der Zigaretten hat.
MAZ