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Potsdamer Tanztage 2023

Nackttanz mit Leuchtstoffröhren eröffnet die 31. Potsdamer Tanztage

Nackte Tänzer mit Leuchtstoffröhren, choreografiert von Mette Ingvartsen. Natur und Künstlichkeit als widersprüchliche Einheit.

Nackte Tänzer mit Leuchtstoffröhren, choreografiert von Mette Ingvartsen. Natur und Künstlichkeit als widersprüchliche Einheit.

Potsdam. Wen zieht es schon an einem Frühsommerabend in ein abgedunkeltes Theater? Während draußen die Sonne langsam hinter dem Horizont versinkt und die Schwalben als ultimative Bewegungskünstler am Himmel ihre Kunststücke vollführen, erwartete am Dienstagabend die Besucher des Hans-Otto-Theaters kaltes Neonlicht auf der Bühne.

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Acht Tänzer tragen jeweils einen etwa einen Meter langen Leuchtstab mit einer schwarzen Rückseite vor sich her. Eine neunte Bühnenfigur hält stattdessen einen krummen Hirtenstock in den Händen. Glatter Kunststoff gegen archaisches Holz. Alle neun tragen weiße Turnschuhe und sind splitternackt. In der knapp einstündigen Aufführung wirkt ihre Blöße aber weder verletzbar noch erotisch, sondern einfach nur unschuldig und normal.

Sven Till: „Tanz wirbt für Solidarität und Fürsorge“

Die mehr als 425 Zuschauerplätze der Eröffnungsveranstaltung der 31. Tanztage sind überbucht. Spontan wird von den Technikern eine zusätzliche Stuhlreihe vor die Bühne montiert. Ehe die knapp einstündige Aufführung beginnt, muss das Publikum noch 30 Minuten lang Begrüßungen, Danksagungen und Reden über sich ergehen lassen. Sven Till, der mit Sabine Chwalisz Anfang der 1990er Jahre die Potsdamer Fabrik sowie die Tanztage mitbegründet hat, wählt recht grundsätzliche Worte, um den Sinn und Zweck dieser in Deutschland eher unpopulären Bühnenkunst hervorzuheben.

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„Tanz berichtet von unseren Wünschen, Zweifeln und Ängsten – er zeigt Körper in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrer Verletzlichkeit ebenso wie in ihrer Stärke“, sagt Till. Tanz sei eine „universelle Kunstform“ und feiere das Leben. „Im Tanz erleben wir den Menschen als soziales Wesen. Tanz wirbt für Solidarität und Fürsorge“. Das Plädoyer der Veranstalter gipfelt in dem Bekenntnis, mit der Vielfalt des Tanzes auch den „rechtsextremen Tendenzen in Teilen Brandenburgs“ begegnen zu wollen.

Tanztage 2023 in Potsdam: Eintritt frei bei sechs Konzerten

Bis zum 11. Juni werden auf Potsdamer Bühnen zwölf Produktionen aus Palästina, Polen, Deutschland, der Ukraine, dem Senegal und der Elfenbeinküste, sowie aus Kanada, Belgien, Tschechien, Frankreich und Schweden zu sehen sein. Ergänzt wird das Programm durch 30 Workshops und sechs Konzerte, zu denen der Eintritt kostenlos ist.

Die Höhepunkte der Tanztage

The Pretty Things: Fünf Tänzer aus Kanada über das Ausbrechen aus Zwängen und Wiederholungen – 1. Juni, 20.30 Uhr, fabrik Potsdam.

Matière(s) Première(s) von Compagnie Par Terre/Anne Nguyen (Paris): Fünf Tänzer aus Paris über Perspektiven in Afrika – 3. Juni, 21 Uhr/4. Juni, 18 Uhr, fabrik Potsdam.

Harmonia von Adrienn Hód/Unusual Symptoms: Zehn Tänzer aus Bremen mit und ohne Behinderung – 6./7. Juni, 19.30 Uhr, fabrik Potsdam.

Every Minute Motherland: Sieben Tänzer aus Polen zum Thema Migration und Flucht – 9./10. Juni, 20.30 Uhr, fabrik Potsdam.

Mbeuk Mi Wossi Europapremiere: Zwei Tänzer aus dem Senegal sagen ,Nein zur Emigration’ – 9./10. Juni, 19 Uhr, T-Werk Potsdam.

Karten im Internet unter www.potsdamer-tanztage.de und telefonisch: 0331/240923.

Die Eröffnungsinszenierung mit dem recht irreführenden Titel „Moving in Concert“ ist eine von fünf Deutschlandpremieren. Als verlangten die großen Eingangsworte nach einer abstrakten Auflösung, beginnt die Choreografie mit einem Gemurmel, das sich bald zu einem Rauschen, Knistern und Prasseln auswächst. In das andauernde Hintergrund- und Arbeitsgeräusch ziehen zum Schluss noch dumpfe perkussive Bässe ein.

Szenenbild aus „Moving in Concert“.

Szenenbild aus „Moving in Concert“.

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Auf der Bühne im Hans-Otto-Theater geht es zu wie in einem Teilchenbeschleuniger

Erzählt werden soll, laut Programm, wie sich Körper in der digitalisierten Welt bewegen und auf plastische Weise organisieren. Doch diese Absicht lässt sich aus den fließenden Bildern kaum herauslesen. Die Aufführung zerfällt eher in einen chemischen und in einen physikalischen Teil. Die erste halbe Stunde bilden die Tänzer mit den Leuchtstoffröhren fließende Muster und Strukturen, die mal die Vertikale, die Horizontale oder die Diagonale betonen. Das Licht blendet zuweilen wie Gegenlicht und lässt die Körper wie Schattenumrisse erscheinen – auch wenn es zusehends eine warme, gelbe Farbe annimmt.

Mit großem Geschick ordnen sich die Tänzer wie vieleckige Moleküle an, die sich als erstaunlich robust und beweglich erweisen. In der zweiten halben Stunde vereinzeln sich die Tänzer mit ihren Lichtstäben im Bühnenraum. Jeder dreht sich monoton wie ein Derwisch um die eigene Achse, entgegen dem Uhrzeigersinn. Auf der Bühne geht es zu wie in einem Teilchenbeschleuniger. Allein das Zuschauen macht schwindelig. Das unentwegte Rotieren soll wohl Ausdruck für Beschleunigung, Verausgabung, Rausch und rasenden Stillstand sein.

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Das Gastspiel wurde von der Dänin Mette Ingvatsen choreografiert, die ihre Karriere in Belgien, dem Zentrum des europäischen Bühnentanzes, gestartet hat. Vor genau 20 Jahren gründete die heute 43-Jährige in Brüssel ihre Kompanie. „Moving in Concert“ wurde schon 2019 produziert, findet nun aber erst nach dem Ende der Pandemie den Weg in die Öffentlichkeit. Mit Sicherheit wird es in den nächsten elf Tagen packendere und aussagestärkere Gastspiele geben.

MAZ

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