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Zeitgenössische Kunst

Potsdamer Kunstraum stellt den Geist der 90er-Jahre aus

Herbert Volkmann: „Angst essen Seele auf“ (Ausschnitt) in der Ausstellung „Zustandsbericht“ im Potsdamer Kunstraum.

Herbert Volkmann: „Angst essen Seele auf“ (Ausschnitt) in der Ausstellung „Zustandsbericht“ im Potsdamer Kunstraum.

Potsdam. Es waren die wilden 90er-Jahre in Berlin. Neugier. Aufbruch. Neuland. Der Osten entdeckte den Westen und der Westen den Osten. In den Kellern wummerten die Techno-Bässe, auf den Straßen tanzte die Loveparade, und Christo und Jeanne-Claude verhüllten den Reichstag. In die deutsche Hauptstadt zogen Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt. Neue Galerien schossen wie Pilze aus dem Boden.

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In diesem Klima entstand eine impulsive Kunst. Und wer es so weit brachte, dass er sie verkaufen konnte, der brauchte einen Steuerberater. Manfred P. Herrmann war da genau der Richtige. Zusammen mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin Burglind-Christin Schulze-Herrmann hatte er schon in den 80ern begonnen, Kunst aus den 20er- Jahren zu sammeln.

Daniel Richter beim Steuerberater

Nun begannen sie, sich für Zeitgenössisches zu interessieren. In der Nachwendezeit saßen Künstler und Galeristen in seiner Kanzlei. Und in den Gesprächen über Abgaben, Abschreibungen und Steuervergünstigungen kritzelten Leute wie Daniel Richter, John Bock oder Maria Serebriakova auf den Notizblöcken im Beratungsraum herum.

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Seit Sonntag sind diese künstlerischen Nebenprodukte, die achtlos liegengelassen wurden, im Kunstraum in der Potsdamer Schiffbauergasse ausgestellt. Und freilich nicht nur die. Insgesamt 120 Arbeiten von mehr als 60 Künstlerinnen und Künstlern aus der Sammlung Herrmann sind in der Ausstellung „Zustandsbericht“ zu sehen. Darunter sind große Namen wie Ai Weiwei, Jonathan Meese, Daniel Richter, Monica Bonvicini, Billy Childish oder Leiko Ikemura.

Suche nach dem Zeitgeist

Der etwas bürokratisch klingende Titel stammt von Kuratorin Linda Peitz. „Er versucht, den Zeitgeist jener Jahre zu beschreiben, wie er sich in der Kunst niederschlug“, sagt sie. Und in der Sammlung des Berliner Ehepaars. Denn aus den Beratungsgesprächen entstanden Freundschaften und die Anfänge einer umfangreichen Sammlung zeitgenössischer Kunst. Mittlerweile hängen in der Kanzlei, ihrer Berliner Wohnung und einem weiteren Haus auf Mallorca rund 650 Werke – Arbeiten die bis in die Gegenwart datiert sind, aber den Spirit jener Zeit atmen.

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Es ist das erste Mal, dass Kunstwerke aus der Sammlung Herrmann auf einen Satz gezeigt werden. Bislang waren nur einzelne Arbeiten als Leihgaben öffentlich zu sehen. Fragt man die beiden Kunstliebhaber, wie sie sammeln, dann sagt Manfred Herrmann schlicht „nach Bauchgefühl“. Es muss einfach funken.

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Vor allem die damals noch jungen Künstlerinnen und Künstler haben es den beiden angetan. „Es ist schön, diese Talente länger zu begleiten“, sagt Burglind-Christin Schulze-Herrmann. Beide sind sie heute über 70 und haben die wilden 60er-Jahre in Westberlin hautnah erlebt. Die 90er waren für sie so etwas wie eine Renaissance.

Die Sammler Manfred P. Herrmann und Burglind-Christin Schulze Herrmann.

Die Sammler Manfred P. Herrmann und Burglind-Christin Schulze Herrmann.

Beim Gang durch die Ausstellung ist das zu spüren. Denn es sind meist emotional aufgeladene Werke. Das Sammlerpaar bevorzugt figürliche Arbeiten. Kühle Abstraktion ist selten anzutreffen.

Die Künstlerfamilie um Herbert Volkmann

Im Zentrum stehen die Arbeiten von Herbert Volkmann. Der 2014 drogenabhängig verstorbene Berliner Maler reihte in den 90ern eine ganze Familie von aufstrebenden Künstlern um sich. Seine Bilder schildern existenzielle Grenzerfahrungen.

Die Sammlung Herrmann

Die Privatsammlung von Manfred P. Herrmann und Burglind-Christin Schulze-Herrmann umfasst rund 650 Werke zeitgenössischer Kunst. Darunter sind Arbeiten von Monica Bonvicini, Jonathan Meese, Daniel Richter und Ai Weiwei. 120 davon sind derzeit im Potsdamer Kunstraum zu sehen.

Zustandsbericht. Arbeiten aus der Sammlung Herrmann und der Contemporary Art Foundation Berlin. Kunstraum Potsdam, Schiffbauergasse, Mi-So, 13-18 Uhr, bis 16. Juli.

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Etwa das Bild „Angst essen Seele auf“ in Anspielung auf einen Film von Rainer Werner Fassbinder. Volkmann malt eine blonde Diva, den Rauch ihrer Zigarette inhalierend. Man spürt ihren Durst nach Leben, glaubt, ihr Erzittern körperlich zu spüren. Ein elektrisierendes Bild – so intensiv wie der Erfahrungshunger der Nachwendejugend.

Bei Jonathan Meeses vergewaltigt Hitler die Welt

Zu Volkmanns Künstlerrunde gehörte auch Jonathan Meese. Die Schau zeigt vier Arbeiten des heutigen Stars, darunter ein Gemälde, das auf Charlie Chaplins Hitler-Parodie in „Der große Diktator“ verweist. Denn die 90er sind auch die Zeit der Neonazis und der Jagd auf Ausländer. Meese malt Hitler in zweideutiger Pose. Seine Umarmung der Welt sieht aus wie eine Vergewaltigung.

Die Schau im Kunstraum ist thematisch und stilistisch breit aufgefächert. An Cézanne erinnert das Landschaftsgemälde der US-Amerikanerin Michelle Jezierski, impressionistisch wirkt die Hafenlandschaft des Briten Tom Docks. Nicht überall ist der Geist der 90er zu greifen. Aber kann man das Sammlern vorwerfen, die eben einfach das kaufen, was ihnen gefällt?

„Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ – Wawrzyniec Tokarski; „Death“.

„Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ – Wawrzyniec Tokarski; „Death“.

Trotzdem lohnt die Ausstellung, denn sie zeigt Werke von zuweilen schlagender Intensität. Etwa das düstere Bild „Leningrad“ von Daniel Richter, das einen Punk in die Nacht entschwinden lässt. Oder das Beil von Monica Bonvicini in einer Glasvitrine. Die Italienerin hat es akribisch mit eng anliegendem schwarzem Leder überzogen und erinnert damit an die hauchdünne Grenze zwischen Nervenkitzel und Gewalt.

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Auswüchse des Neoliberalismus

Die 90er, das war auch der Höhenflug der neoliberalen Ideologie, die jeden zu einem Unternehmer und später gar zu einer Ich-AG machen wollte. Der polnische Maler Wawrzyniec Tokarski skizziert eine vollgemüllte Altbauwohnung. Sie dürfte jemandem gehören, der es nicht nach oben geschafft hat. „Wohnst du noch oder lebst du schon?“, steht unter einem im Design des schwedischen Möbelhauses angebrachten Schriftzug. Und als wäre das nicht schon sarkastisch genug, steht darüber nicht „Ikea“, sondern „Death“ – also Tod.

Die Installation „Eight to Four“ des US-Amerikaners Josh Kline (Detailansicht).

Die Installation „Eight to Four“ des US-Amerikaners Josh Kline (Detailansicht).

Der US-Amerikaner Josh Kline nimmt sich das Leben am Rande eines gnadenlos regierenden Marktes noch drastischer vor. Er hat den Wagen einer Reinigungskraft mit Gegenständen bestückt, die alle mit einem 3-D-Drucker hergestellt wurden: verschmierte Putzmittelflaschen, gebrauchte Lappen, ausgeleierte Handschuhe liegen darin, aber auch ganze Hände und ein Kopf, in dessen Gesicht das Logo einer Putzmittelfirma klebt.

Der Markt frisst seine Kinder, möchte man sagen. Die Ausstellung „Zustandsbericht“ dokumentiert, was in den 90ern begann.

MAZ

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