Reim oder nicht Reim: Warum wird Lyrik oft gehasst?
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Lyrisch: Die amerikanische Dichterin Amanda Gorman liest ein Gedicht vor während der 59. Amtseinführung des Präsidenten im US-Kapitol.
© Quelle: Patrick Semansky/AP Pool/dpa
Es war der Tag, an dem die Demokratie wieder Luft bekam und die Sonne den Grauschleier der Trump-Jahre durchbrach. Bernie Sanders hatte seine Ausgehfäustlinge angezogen, Joe Biden schwor seinen Eid, Kamala Harris den ihren – und zu all diesen erleichternden, bedeutenden Momenten gab es einen bewegenden Soundtrack.
Doch der Soundtrack bestand – trotz der anwesenden Sängerinnen Lady Gaga und Jennifer Lopez – nicht aus einem Song. Sondern aus einem Gedicht. „Let the globe, if nothing else, say this is true.“ Lass die Welt sagen, wenn nichts sonst, dass dies wahr ist. So begann die an diesem Januartag noch 22-jährige Lyrikerin Amanda Gorman ihr Poem „The Hill We Climb“.
Und Millionen an den Fernsehschirmen wurden verzaubert durch den Klang der Worte – wie auch die Art des Vortrags. Zeilen wie „We’ve braved the belly of the beast“ oder „To compose a country committed / To all cultures, colors, characters, / And conditions of man. / And so we lift our gazes not / To what stands between us, / But what stands before us“ klingen wie Melodien in unseren Ohren. Egal ob man den Inhalt auf Anhieb versteht oder ihm erst durch eine Übersetzung näherkommt: Gedichte in dieser Form sind Wohlklang.
„Warum hassen wir die Lyrik?“
Warum aber wird Lyrik trotzdem oft links liegen gelassen? Warum gelten Romane als Krone der poetischen Schöpfung, während sich Leser und Leserinnen oft keinen Reim aufs Gereimte (oder auch aufs ungereimt Lyrische) machen können. Oder um es mit den Worten des US-amerikanischen Schriftstellers Ben Lerner noch etwas drastischer zu fragen: „Warum hassen wir die Lyrik?“
Lerner ist 2020 durch seinen Roman „Die Topeka Schule“ auch in Deutschland berühmt geworden. In seinem Essay „Warum hassen wir die Lyrik?“, in dem er die titelgebende Frage stellt, geht es unter anderem um die Inauguration Barack Obamas im Jahr 2009. Der erste schwarze Präsident der USA wollte bei seiner Amtseinführung die Praxis wiederbeleben, ein Gedicht vortragen zu lassen. Der Kommentator George Packer hielt das für keine gute Idee und schrieb im „New Yorker“: „Schon seit vielen Jahrzehnten ist die amerikanische Lyrik ein Privatvergnügen, von wenigen verfasst und von wenigen gelesen, sie verfügt nicht über die Sprache, den Rhythmus, die Emotion und das Denken, um größere Zahlen von Menschen in größeren öffentlichen Zusammenhängen zu bewegen.“
Neues Magazin mit klassischen und modernen Gedichten
Amanda Gorman hat ihn mit ihrem fulminanten Gedicht Lügen gestraft. Aber mit der Formulierung „von wenigen verfasst und von wenigen gelesen“ beschreibt Packer ja völlig korrekt die Lage der Lyrik, nicht nur in den Vereinigten Staaten. Daran kann auch der Gewinn des letztjährigen Nobelpreises durch eine Lyrikern – Louise Glück wurde die Ehre zuteil – nichts ändern. Lyrik fristet ein Schattendasein.
Das ist egal, scheint sich hingegen Oliver Wurm zu denken. Der Hamburger Verleger hat in diesen Tagen ein Magazin mit Gedichten auf den Markt und an den Kiosk gebracht. Das klingt erst einmal verrückt – und das ist es wohl auch. Denn Gedichte, das heißt für viele heute doch immer noch: Das hatten wir mal in der Schule, das war dieses nervige Zeugs in den gelben Büchlein, und ich bin froh, dass ich damit nichts mehr zu tun habe. Eichendorffgoetheschillerfontane. Da rollen die Augen.
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Neues Magazin: „Dreizehn plus 13 Gedichte“ vereint klassische und moderne Lyrik.
© Quelle: Oliver Wurm
Auf der anderen Seite ist Oliver Wurm ein Mann, der verrückte Ideen nicht nur hat, sondern sie auch umsetzt. Er ist es, der das Grundgesetz als Magazin gestaltet hat. Mehr als 100.000 Exemplare sind mittlerweile gedruckt.
Jetzt also Lyrik. „Dreizehn plus 13 Gedichte“ heißt das Magazin, dreizehn Klassiker wie Goethes „Zauberlehrling“ und Schillers „An die Freude“ treffen auf 13-mal Modernes von Kerstin Preiwuss, Marcel Beyer oder – natürlich – Jan Wagner. Der Clou ist aber wie schon beim magazinigen Grundgesetz die Präsentation. Poppige Farben, kurze Erläuterungen, ein freundliches Layout, eine ansprechende Haptik und merklich viel Freude an der Idee machen aus dem Heft ein Juwel am Kiosk. Man könnte sagen, dieses Magazin ist ein Gedicht.
Schuld an dieser Idee ist ausgerechnet ein Altkanzler. Er habe, so erzählt Wurm, vor einiger Zeit auf dem Instagram-Profil von Gerhard Schröders Frau, Soyeon Schröder-Kim, ein Video entdeckt. „Man sah einen herbstlich gedeckten Abendbrottisch auf deren Terrasse. Und im Hintergrund hörte man die sonore Stimme von Gerhard Schröder, der Rilkes ‚Herbsttag‘ rezitierte“, erzählt Wurm. „Und das hat mich so gerührt, dieses ‚Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß‘, und ich habe mich gefragt, ob ich der Einzige bin, der das schön findet.“
„Jede Woche ein Gedicht“
Schröder und Rilke, das war quasi die Geburtsstunde des Lyrikmagazins „Dreizehn plus 13 Gedichte“, dessen zweite Ausgabe im kommenden März erscheinen soll. Mit diesen dann 26 Klassikern plus 26 zeitgenössischen Gedichten komme man der alten Forderung „Jede Woche ein Gedicht“ nach. Und wenn sich von dem Magazin, das zunächst in einer Auflage von 20.000 Stück erscheint, genug verkauft, sind weitere Ausgaben denkbar. Bisher läuft dieses schöne Projekt jedenfalls gut an: „Ich bin wirklich erstaunt, wie viel positive Resonanz ich darauf bekomme.“
Aber auch außerhalb von Oliver Wurms Magazin finden sich viele Beispiele, die den allgemeinen Eindruck, Lyrik sei nebensächlich, weltentrückt, abgehoben, nerdig oder irrelevant widerlegen.
Volker Brauns Lyrik zur Lockdownzeit
Da wäre Volker Braun. Der Büchnerpreisträger hat mit „Große Fuge“ einen aktuellen Kommentar zur Lockdownzeit abgegeben. In der für ihn vertrauten Mischung aus antiker Mythologie und marxistisch unterfütterter Analyse lädt er die Gegenwart ein in sein Wortreich aus Klein-, Groß- und Sehrgroßschreibung. „Die Stadt ist ruhiggestellt / wie ein Pestpatient / Ein Morgenfrieden bis Mitternacht / Entmenschte Straßen, wie befreit / von der Krätze / Der Kunden. Der Senat schließt die Kneipen zu / Die Stadien verweisen BLEIERN UNION.“ Diese Zeilen finden sich unter dem wunderbar malad-mythologischen Mischtitel „Katarrhsis“. Läuterung durch Abhusten, könnte man meinen, Lyrik, die unter die Schleimhaut geht.
Da ist Lutz Seiler, der kürzlich seine neuen sprachgefühlsbetonten Gedichte unter dem Titel „schrift für blinde riesen“ veröffentlicht hat. Da sind die wunderbaren Gedichte von Ulrike Almut Sandig, die man lesen, aber vor allem auch hören muss. Da sind die teilweise märchenhaft-mythenreichen Poeme von Kerstin Hensel.
Ben Lerner hasst Lyrik nicht, er schreibt sie
Und da wäre der bereits angesprochene Ben Lerner. Der 42-Jährige hat nicht nur mit „Warum hassen wir die Lyrik?“ eine verkappte Liebeserklärung an die Poesie verfasst. Sondern er schreibt selbst Gedichte. Sie sind nun in einer deutsch-englischen Ausgabe unter dem Titel „No Art“ erschienen. Auch dort finden sich Gedanken über die Lyrik: „Ich kenne ein Gedicht aus der / Schule unter den Sternen, aber / gehöre keiner / lyrischen Schule an. / Auswendig vergaß ich’s. Ich weiß nur / es war, in die Welt versetzt, von seinem Thema / getrennt.“
Ben Lerner: „Warum hassen wir Lyrik?“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp. 100 Seiten, 14 Euro.
Ben Lerner: „No Art. Poems/Gedichte“. Englisch/deutsch. Aus dem amerikanischen Englisch von Steffen Popp. In Zusammenarbeit mit Monika Rinck. Mit einem Vorwort von Alexander Kluge. Suhrkamp. 512 Seiten, 34 Euro.
„dreizehn + 13 Gedichte“. Lyrikmagazin, herausgegeben von Oliver Wurm. 146 Seiten, 10 Euro.
Kerstin Hensel: „Cinderella räumt auf“. Luchterhand. 136 Seiten, 20 Euro.
Volker Braun: „Große Fuge“. Suhrkamp. 53 Seiten, 16 Euro.
Ulrike Almut Sandig: „Ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt“. Schöffling. 96 Seiten, 22 Euro.
Lutz Seiler: „schrift für blinde riesen“. Suhrkamp. 112 Seiten, 24 Euro.