Von oben auf die Welt geschaut: Trauer um „Wimmelbuch“-Autor Ali Mitgutsch
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Kinderbuchautor Ali Mitgutsch ist gestorben.
Der Blick von oben ist zunächst oft ungenau, vieles verschwimmt. Erst wer genauer hinschaut, erkennt Details, Lustiges, Tragisches, Aufregendes, Abenteuerliches. Im Zeitalter von Google Maps und der massenhaften Verbreitung von Drohnen, in dem der Blick von oben auf die Erde nicht nur Vögeln, Riesenradfahrern und Weltraumpiloten vorbehalten ist, können wir diese Aus- und Einsichten genießen, wann wir wollen. Wer in den Sechzigern, Siebzigern oder Achtzigern aufwuchs, konnte zwar selten Fotos aus Drohnen schießen, kannte aber dank des Illustrators und Erfinders der „Wimmelbücher“ Ali Mitgutsch schon damals den Weltblick von oben. Nun ist der Zeichner und Kinderbuchautor im Alter von 86 Jahren gestorben, wie sein Freund und Biograf Ingmar Gregorzewski am Dienstag unter Berufung auf die Familie des Verstorbenen mitteilte.
Alfons Mitgutsch, wie der gebürtige Münchener mit bürgerlichem Vornamen hieß, kam 1935 zur Welt. Seine Kindheit, das wird in seinen Erinnerungen mit dem passenden Titel „Herzanzünder“ deutlich, war schwierig. Der Krieg prägte ihn schon früh. Seine aufgeschriebenen Erinnerungen beginnen bezeichnenderweise mit den ersten Brandbomben auf München am 5. Juni 1940. „Diese Luftangriffe gehören zu meinen frühesten Erinnerungen“, schreibt Mitgutsch. Ein Bruder fällt im Zweiten Weltkrieg. Mitgutsch selbst war klein, ein schlechter Schüler, schwach, unsicher.
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Mitgutsch blickte traurig auf seine Kindheit zurück
In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk blickte er einmal mit traurigen Worten auf seine Kindheit zurück: „Ich hatte keine Freunde und ich hatte keine Abenteuer, die ich selber erlebt habe. Und da erfand ich mir zwei Freunde selber: einen großen starken dicken, und einen kleinen mit einer spitzen Nase, einen ganz frechen, der immer die besten Ausreden erfand.“ Die Probleme in seiner Kindheit wurden später zu seinem Vorteil: „Dass ich ein so genaues Gefühl entwickelt hatte, was bei Kindern ankommt – was Kinder lieben, von was Kinder begeistert sind, unter was Kinder leiden – diese Erinnerung war bei mir sicher stärker als bei einem Durchschnittskind, und das wurde später zu meinem Plus.“
Rechtschreibung war für ihn ein undurchdringbares Labyrinth. Er schämte sich für jedes geschriebene Wort. Was ihn rettete und womit er sich plötzlich doch ausdrücken konnte, war das Zeichnen. Ende der Sechzigerjahre dann schuf er nach einer Anregung eines Bekannten sein erstes Wimmelbuch. „Rundherum in meiner Stadt“ erschien 1968. Gleich im nächsten Jahr wurde es mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Schon in diesem Erstling war sicht- und spürbar, was Mitgutschs spätere Bücher auch ausmachen sollten: eine Grundherzlichkeit, eine Freundlichkeit und etwas Liebevolles. Mitgutsch konnte Herzen anzünden und erwärmen.
Auch nach dem hundertsten Mal erblickte man noch ein neues Detail
Es folgten weitere Wimmelwerke wie „Das große Piraten-Wimmelbuch“, „Komm mit ans Wasser“ oder „Bei uns im Dorf“. Hier überschlägt sich ein Kind in der Schaukel, dort flickt ein Fischer sein Netz, und, schau mal dahinten, da rutscht ein Junge auf einem Kuhfladen aus. Immer gab es etwas zu entdecken – und auch nach dem hundertsten Mal erblickte man noch ein neues Detail in dieser wunderbaren Welt. Mitgutsch erzählte seine Alltagsgeschichten ohne Worte. Seine Zeichnungen sprachen für sich.
Manchen Mäklern in den späten Sechzigern und in den Siebzigern war diese Welt zu wunderbar. Sie bemängelten die heile Welt, die der Kinderbuchautor darstellte. Es war die Zeit, in der alles politisch, kritisch sein musste. Mitgutsch störte die Kritik, aber er zeichnete seine Bilder und seine Bücher nicht neu. Wer Wimmelbilder sehen wollte, die nicht nur Paradies, sondern auch Hölle zeigten, konnte sich ja die Werke von Hieronymus Bosch anschauen. Da war ja auch immer ordentlich was los. Als Mitgutsch 2018 das Bundesverdienstkreuz erhielt, sagte er: „Besonders dankbar bin ich darüber, dass die Botschaft, die ich in meine Arbeit gelegt habe, nämlich, dass wir zwar in keiner heilen, aber in einer heilbaren Welt leben, seit so vielen Generationen verstanden wird.“ Nicht heil, aber heilbar. Was für ein versöhnlicher, hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.
Heute gibt es Wimmelbücher in allen Größen, Facetten und Spielarten
Heute sind Wimmelbücher in allen Größen, Facetten und Spielarten zu kaufen, von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren. Für Generationen von Kindern und für viele Erwachsene aber bleibt Ali Mitgutsch der Herr der Wimmelbilder. Er hat ganz spielerisch gezeigt, dass genaues Hinschauen Schätze bergen und Urteile ändern kann. Vielleicht hat dieser Herzerwärmer und Kindheitsheld jetzt einen guten Blick von oben auf die Erde.