Konzert ’88: Mein Springsteen-Erlebnis
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MAZ-Redakteur Frank Pechhold mit seinen Erinnerungsstücken an Bruce Springsteen.
© Quelle: Mathias Pechhold
Dahmeland-Fläming. Wahnsinn auf der Radrennbahn in Weißensee. „Schwitzbad für Bruce“ titelte ich damals meinen Beitrag für die „Märkische Volksstimme“ über das größte Rockkonzert in der Geschichte der DDR. Heute vor 30 Jahren standen Bruce Springsteen und die E-Street-Band in Ost-Berlin auf der Bühne. Viele Fans erinnern sich noch gut an die Begegnung mit dem Boss und das Gänsehautgefühl.
Arrest wegen Konzertbesuch
„Ein Hammer-Erlebnis war das“, sagt Thomas „Thommy“ Thiele aus Königs Wusterhausen. „Aber Springsteen schuldet mir immer noch ’ne Runde Bier, weil ich für ihn drei Tage in den Knast gegangen bin“. Thiele war 1988 bei Neubrandenburg in der NVA-Kaserne „Fünfeichen“ stationiert. „Über diverse Kanäle habe ich eine Karte für das Konzert erhalten“, erzählt er.
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Bruce Springsteen (M) mit seiner E-Street-Band am 19. Juli 1988 in Berlin. Links der Gitarrist Nils Lofgren, rechts der Saxophonist Clarence Clemons.
© Quelle: dpa
Um nach Berlin fahren zu können, beantragte er Urlaub bei seinem Kompaniechef. „Abgelehnt!“, hieß die Antwort. Kaum draußen, klopfte „Thommy“ erneut an die Tür, um Ausgang zu beantragen. „Abgelehnt!“ Beim dritten Mal genehmigte der Kompaniechef den Ausgang mit der Bemerkung: „Sie wissen schon, dass Sie den Ausgangsbereich verlassen, wenn Sie nach Berlin fahren.“ Thiele fuhr nach Weißensee.
Als er früh um vier zurückkam, wartete der Kompaniechef schon auf ihn und schickte ihn drei Tage in die Arrestanstalt. „Tagsüber musste ich bei den Fliegern in Trollenhagen die Rollbahn fegen. Von links nach rechts und rechts nach links“, sagt Thiele.
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Thomas Thiele, Geschäftsführer Stadtjugendring Königs Wusterhausen, handelte sie 1988 Arrest für den Konzertbesuch ein.
© Quelle: MAZ/Archiv
Nach dem Arrest durfte er zurück in seine Kompanie. Hier hatte jemand das zeitversetzt bei Jugendradio DT 64 übertragene, vierstündige Konzert auf Kassette mitgeschnitten. „Bei der Aufnahme war genau zu hören, dass eine Stelle fehlt“, erzählt Thiele. Nach gut einer Stunde sagte Springsteen zu den Fans: „Es ist gut, in Ost-Berlin zu sein. Ich bin hier nicht für oder gegen irgendeine Regierung. Ich bin gekommen, um für euch Rock ’n’ Roll zu spielen. Für euch Ost-Berliner, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden.“ Diese von einem Zettel abgelesene Botschaft fiel der ostdeutschen Zensur zum Opfer.
Rocksommer der Freien Deutschen Jugend
„Die Karten haben nur 20 Mark gekostet“, erinnert sich Torsten Ziller aus Golßen. Ein paar Lieder kannte er. „Aber dass ich ein Springsteen-Fan war, kann ich echt nicht behaupten“, sagt er. Solche Konzerte müsse man halt mitnehmen, egal ob man Fan ist oder nicht. An Veranstalter und Motto des Konzertes erinnere er sich nicht mehr. „Irgendwas mit FDJ oder so.“
Mit diesem Konzert wurde der 5. Berliner Rocksommer der Freien Deutschen Jugend (FDJ) eröffnet. Am 19. Juli 1988 machte Bruce Springsteen im Rahmen seiner „Tunnel of Love-Express“-Tour Station in Weißensee. Ohne dass er davon wusste, kündigte der Jugendverband die Veranstaltung als „Konzert für Nikaragua“ an.
Mit dem West-Besuch aus Groß Schulzendorf zum Konzert
Karten wurden an Betriebe und vor allem FDJ-Leitungen in der ganzen DDR verteilt. Der öffentliche Vorverkauf fand ausschließlich in Ost-Berlin statt. „Wir haben unsere Karten eine knappe Woche vorher gekauft“, sagt Katja List aus Groß Schulzendorf. Zu viert sei man zu Springsteen gefahren. „Sogar Westbesuch war mit dabei.“
„Ich muss mal.“ – Ohne Ticket zum Konzert
Weil es nicht genug Karten gab, drängelten sich viele Menschen an diesem schwül-warmen Dienstag einfach an Ordnern und Einzäunungen vorbei auf das Gelände. „Meine Schwester Tina und ich sind mit Tricks durchgekommen“, erzählt Simone Wogatzki. Ohne Karten wollten die beiden Wünsdorferinnen Weißensee rocken. Um die erste Absperrung zu überwinden, gab Tina vor, dringend in den dahinter stehenden Toilettenwagen zu müssen. Die Schwestern wurden durchgelassen, weil sie versprachen, zurückzukommen.
So standen sie plötzlich mitten im Pulk vor dem Einlass. „Es war verdammt eng“, berichtet Simone Wogatzki. Wieder reagierte ihre Schwester clever. Die erzählte den Ordnern, wegen des Gedränges die schon an der ersten Absperrung vorgezeigten Karten nicht aus der Tasche holen zu können. „Schwupps waren wir drin“, so Simone Wogatzki. Da sang Springsteen gerade „Born in The U.S.A“.
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Begeisterte Zuschauer beim Springsteen-Konzert. Mehrere hunderttausend Menschen waren dort.
© Quelle: dpa
Die gleichnamige Schallplatte hatte das DDR-Label Amiga 1986 als Lizenzalbum herausgebracht. Diese Songs stimmten Verona Luchmann in Neuhof auf den livehaftigen Springsteen ein. „Das war mein allererstes Konzert“, sagt sie. Mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Thomas fuhr die damals 17-Jährige nach Berlin. Leider sei die Videoleinwand vor ihr dauernd ausgefallen, so Verona Luchmann. So konnte sie Springsteen nur ameisenklein sehen. Das sei ihr aber egal gewesen. „Dabei sein war alles“, sagt sie.
„Halbe Weltreise“ aus Bestensee nach Weißensee
„Das war schon eine halbe Weltreise, um nach Weißensee zu kommen“, erzählt Janett Diewok aus Bestensee. S-Bahn und Busse waren überfüllt, viele Straßen total verstopft. An diesem extrem heißen Dienstag hätten sie und ein paar Freunde so eng wie die Heringe in der Konservenbüchse auf dem großen Platz gestanden und Durst gehabt. „Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwo einen Getränkestand gesehen zu haben“, sagt sie.
„Jepp – ich stand wirklich in der ersten Reihe. Aber irgendwann musste ich raus, sonst wäre ich erdrückt worden“, sagt Knut Sabelus aus Königs Wusterhausen. Möglichst dicht wollte er an die Bühne ran. „Als es immer voller wurde, begannen die Massen von hinten zu drücken“, sagt Sabelus. Offiziell kamen 160 000, Schätzungen zufolge 300 000 bis 500 000 Menschen nach Weißensee. Die Ordner hatten kräftig damit zu tun, alle aus der Menge zu ziehen, die zerquetscht zu werden drohten. Einige von denen landeten bei Christiane Funke, die das Konzert kostenlos miterlebte. „Allerdings im Sanizelt, um die hyperventilierenden Fans zu versorgen.“
Jeans-Jacke durchgeschwitzt in der Menschenmasse
Mit jedem herausgezogenen Fan rutschte Knut Sabelus weiter vor. Endlich stand er an der Absperrung aus Betonprofilen. Mit beiden Händen stützte er sich an den Profilen ab, um einem Mädchen vor ihm wenigstens ein bisschen Luft zum Atmen zu verschaffen. „Das habe ich gefühlt anderthalb Stunden durchgehalten“, sagt er. Dann mussten die Ordner auch ihn von dem zu starken Druck befreien. Als Sabelus über die Betonabsperrung gezogen wurde, blickte er zurück auf die Menschenmassen. „Das war Wahnsinn! Meine Jeans-Jacke war so durchgeschwitzt, dass ich sie auswringen konnte“, sagt er.
Mitten im Konzert habe er an seine Tante in Detroit gedacht, so Sabelus. Schließlich stand mit Springsteen jemand vor ihm auf der Bühne, der schon in der Heimatstadt seiner Tante gewesen war. Sein Fazit: „Das war schon heftig. Eben ein fantastisches Gefühl von Freiheit, die wir so nicht kannten und teilweise auch gar nicht vermisst haben. Wenn ich damals nur geahnt hätte, was später noch alles kommen sollte...“
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Von Frank Pechhold