„Viele Kinder sind traumatisiert“
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Catrin Seeger (l.) und Jana Reinhardt werben für den Aktionstag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November.
© Quelle: Christin Schmidt
Rathenow. Am 25. November werden an Rathäusern und öffentlichen Plätzen weltweit die Fahnen der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes wehen. Sie erinnern an den Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt an Frauen. Catrin Seeger und Jana Reinhardt, die gemeinsam das einzige Frauenhaus im Havelland leiten, sprechen im MAZ-Interview über drängende Probleme und mögliche Lösungen.
Seit 1981 gibt es den Gedenk- und Aktionstag gegen Gewalt an Frauen. Warum brauchen wir auch 2018 noch einen solchen Tag?
Catrin Seeger: Eigentlich sollte es 365 solcher Tage geben. Es kann nicht sein, dass man nur einmal im Jahr an die Opfer häuslicher Gewalt denkt. Die Gesellschaft muss sich viel häufiger damit befassen. Insgesamt rückt das Thema aber zum Glück mehr ins Bewusstsein der Menschen. Immerhin wird es seit über 40 Jahren thematisiert.
Woran mangelt es im Land Brandenburg, wenn es um die Hilfe von Opfern häuslicher Gewalt geht?
Jana Reinhardt: Wir brauchen dringend eine Finanzierung für psychosoziale Arbeit mit betroffenen Kindern und zur Stärkung der Beratungsstrukturen. Zudem sind wir das einzige Bundesland ohne Täterarbeit. Es kommt ja durchaus vor, das Täter nach Hilfsangeboten suchen. Wir können das aber nicht leisten. Für Alkoholiker gibt es den Entzug, für Gewalttäter fehlt ein Angebot. Dabei gab es bereits ein gutes Konzept. Es scheiterte allerdings an der Finanzierung.
Seeger: Jedes Bundesland regelt die Finanzierung solcher Angebote unterschiedlich. Das gilt auch für die Finanzierung der Frauenhäuser Wir brauchen dringend eine bundeseinheitliche, unbürokratische Regelung und einen Rechtsanspruch auf einen Frauenhausplatz.
Welche Probleme ergeben sich durch diese unterschiedlichen Regelungen?
Seeger: Es ist leider so, dass die Opfer für einen Platz in den meisten Fällen bezahlen müssen. Es kann aber nicht sein, das Frauen sich überlegen müssen, ob sie sich diese Hilfe leisten können. In unserem Haus nehmen wir alle Frauen auf, auch die, die kein Einkommen haben. Allerdings bleiben wir oft auf den Kosten sitzen. Eine bundesweite, kostenfreie Hilfe für alle, würde dieses Problem lösen. Es muss eine Pflichtaufgabe des Staates sein und keine freiwillige Leistung.
Reinhardt: Außerdem sind die Häuser nicht bedarfsgerecht ausgestattet. Laut Istanbul-Konvention muss pro 10 000 Einwohner ein Familienzimmer zur Verfügung stehen. Wir haben in Deutschland etwa 350 Frauenhäuser mit 6000 Plätzen. Laut Berechnungen der Konvention fehlen uns 5000 Frauenhausplätze.
Inwiefern hat der Zuzug von Flüchtlingen seit 2015 die Situation in den Einrichtungen verändert?
Reinhardt: Der Bedarf ist viel intensiver. Dabei ist Sprache ein großes Thema. Wir sind auf Dolmetscher angewiesen, müssen aber auf die Hilfe von Sprachmittlern vor Ort zurückgreifen. Sie kommen oft aus dem selben Kulturkreis wie die Betroffenen und sind nicht geschult. Dann mischen sich persönliche Vorstellungen in die Beratungen. Zum Beispiel den Mann zu verlassen ist ein Tabu. Die Folge: Die Frauen wollen plötzlich wieder zurück, brechen bei dem Gedanken daran aber förmlich zusammen.
Viele Frauen kommen mit Kindern ins Frauenhaus. Wie steht es um die Versorgung der Jungen und Mädchen?
Seeger: Die Betreuung ist unser größtes Problem. 2017 haben wir 37 Frauen und 47 Kinder aufgenommen. In diesem Jahr sind es bereits 33 Frauen und 41 Kinder. Wir brauchen dringend geeignetes Fachpersonal, dass die Kinder in ihrer eigenen Gewalterfahrung auffängt. Sie werden aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und müssen sich oftmals traumatisiert in ein neues System einfügen. Diese Kinder zu unterstützen ist absolut notwendig.
Welche Konsequenzen sehen Sie, wenn das nicht umgesetzt wird?
Seeger: Die Kinder haben zu Hause erlebt, wie der Vater die Mutter klein macht. Dieses Verhalten kopieren einige. Sie nutzen die Ohnmacht der Mutter aus, um ihren Willen durchzusetzen. Viele Kinder tragen zudem ein großes Aggressionspotenzial in sich, dass sie gegen sich und andere ausleben.
Reinhardt: Wir haben Kinder bei uns, die immer auf der Flucht waren, noch nie ein Zuhause hatten und deren Alltag von Gewalt in der Familie geprägt war. Deshalb kann man gar nicht früh genug damit anfangen, die Kinder zu stärken. Wenn sich das nicht ändert, ziehen wir die nächste Generation von Gewalttätern heran.
Die Istanbul-Konvention
Die Istanbul-Konvention ist ein „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Deutschland hat am 12. Oktober 2017 die Beitrittsurkunde beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt. Anfang Februar 2018 ist das rechtlich bindende Menschenrechtsinstrument in Deutschland in Kraft getreten. Damit liegt erstmals für den europäischen Raum ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur umfassenden Bekämpfung jeglicher Form von Gewalt an Frauen vor. Mittlerweile haben 28 Staaten die Konvention ratifiziert – Stand Februar 2018. Der Konventionstext umfasst alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen – körperliche, seelische und sexuelle Gewalt sowie Stalking, Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung.
Sie arbeiten im einzigen Frauenhaus im Havelland, decken den 24-stündigen Bereitschaftsdienst ab und kümmern sich um die ambulante Beratung. Wenn eine Frau in Not ist, sind sie da. Zudem sind Sie, Frau Seeger, Vorstandsmitglied und Sprecherin des Netzwerks brandenburgischer Frauenhäuser. Können zwei Personen das alles überhaupt leisten?
Seeger: Nicht so, wie wir es gern tun würden und Ohne Ehrenamt könnte es überhaupt nicht funktionieren. Wir müssten vielmehr mit der Polizei ins Gespräch kommen, Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit leisten und uns stärker vernetzen. Dazu kommen Probleme die der ländliche Raum mit sich bringt. Es fehlt an Strukturen. Wir bekommen selbst in Akutfällen keinen Termin bei Psychologen und anderen Fachärzten. Einen Kita-Platz zu bekommen ist fast unmöglich, selbst in Schulen ist es schwierig. Hinzu kommt der bürokratische Aufwand, der bei Frauen mit Migrationshintergrund noch höher ist. Allein 2017 fanden Frauen aus 13 Nationen bei uns Schutz.
Bei all den Schwierigkeiten, gibt es auch positive Entwicklungen?
Seeger: Die gibt es durchaus. Zum einen bewegt sich inzwischen einiges in der Politik. Mit Inkrafttreten der Istanbul-Konvention am 1. Februar hat die Bundesfamilienministerin für nächstes Jahr fünf Millionen Euro Soforthilfe versprochen und weitere 30 Millionen bis 2020 für den Ausbau des Hilfesystems. Allerdings verweist der Bund darauf, dass die Länder sich beteiligen müssen. Die Länder wiederum pochen darauf, dass es Aufgabe der Kommunen ist.
Reinhardt: Positiv ist auch, dass viele Flüchtlingsfrauen inzwischen wissen, dass der Mann nicht prügeln darf. Sie haben verstanden, dass wer hierher kommt sich an Gesetze halten muss und zwar auch an das Gewaltschutzgesetz. Es ist ganz wichtig, dass Frauen den Mut haben zu sagen, mit mir nicht mehr.
Haben Sie es jemals bereut, sich für diesen Job entschieden zu haben?
Reinhardt: Nein, es ist genau das, was ich machen will. Aber ich würde mir eine Verbesserung der Rahmenbedingungen wünschen. Dass man nicht so allein gelassen wird mit all den Problemen.
Gibt es am Sonntag neben den Fahnen auch Aktionen im Havelland?
Reinhardt: Ich werde in Falkensee sein. Dort wird um 10 Uhr der Film "Unter aller Augen" im Ala-Kino gezeigt. Die Dokumentation zeigt nicht nur die Lebenswelt von Frauen, die schlimmster Gewalt ausgesetzt waren und sich frei gekämpft haben. Sie geht auch den gesellschaftlichen Mechanismen und Strukturen nach, die diese Verhältnisse ermöglichen. Die Vorstellung ist kostenlos.
Von Christin Schmidt
MAZ