Misshandlung, Vergewaltigung, Demütigung
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In diesem Kinderheim in Halle (Saale) hat Rico Wust die schlimmsten Jahre seines Lebens verbracht.
© Quelle: Stefan Röhrig
Oranienburg. Als Rico zehn Jahre alt ist, beginnen die grausamsten Vergehen gegen ihn. „Eines abends sollte ich einem neuen Erzieher in den Keller folgen. Dort hatten sie ihre Umkleideräume und Duschen. Als er sich an seinem Spint auszog, sagt er mir, ich müsste etwas tun, um meine Bettnässerei wieder gutzumachen.
Ab diesem Tag hat er mich wiederholt zwischen Abendbrot und Nachtruhe mitgenommen. Ich musste ihn unter der Dusche mit der Hand oder mit dem Mund befriedigen. Es gefiel ihm, wenn er auf meinem Gesicht kam. Er steckte mir auch seinen Finger in den Po.“
Mit acht Monaten kommt Rico Wust in sein erstes Kinderheim
Der mittlerweile 49-jährige Rico Wust (Name geändert) kam bereits mit acht Monaten in sein erstes Kinderheim in Halle (Saale). Der Grund ist so absurd wie verbreitet in der damaligen Zeit: Seine Mutter ist von einem russischen Offizier vergewaltigt worden. Als sie Anzeige erstatten will, wird sie für eineinhalb Jahre im berüchtigten Stasi-Frauengefängnis Roter Ochse in Halle inhaftiert.
Zwischen 1970 und 1981 erlebt Rico in diversen Kinderheimen Demütigungen und Gewalt wegen seiner Bettnässerei, die vermutlich ein Resultat der frühen Trennung von der Mutter ist. Später wird er immer häufiger von seinen männlichen Erziehern und den älteren Heimkindern vergewaltigt.
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Heute nur noch eine Ruine: Das Clara Zetkin Kinderheim in Halle an der Saale.
© Quelle: Stefan Röhrich
Die Zustände in den DDR-Kinderheimen sind kein Geheimnis
Die Umstände in den DDR-Kinderheimen sind bekannt. 2016 bekam Rico Wust aus dem Fonds „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ eine Entschädigung von 10 000 Euro.
Der Fonds ist ein Resultat mehrerer Runder Tische zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in diesen Einrichtungen. Zwischen Juli 2012 und September 2014 konnten sich Betroffene melden. Allein 6000 Brandenburger taten dies.
Die Teamleiterin der Anlaufstelle in Potsdam, Yvonne Laue, hat fast alle Fälle begleitet: „Wir wissen natürlich, dass die Betroffenen niemals irgendetwas wirklich entschädigen wird oder ihnen den Schmerz nehmen kann. Aber es ist ein Versuch, ihnen zumindest jetzt das Leben etwas angenehmer zu machen.“
Unmenschliche Strafen für Bettnässerei
Um das Geschehene verarbeiten zu können, erstellt Rico Wust im Rahmen seiner Psychotherapie ein Erinnerungstagebuch. Darin beschreibt er die Strafen, die er aufgrund des Bettnässens bekam.
Etwa einen dicken Stapel Bücher eine halbe Stunde lang auf ausgestreckten Armen halten oder Prügel mit einem Rohrstock von jedem einzelnen Klassenkameraden sowie Nahrungsentzug oder das Trinken seines eigenen Urins.
Rico ist nicht der einzige Junge, der im Kinderheim als vermeintliches „Problemkind“ auffällt. Ein anderer kotet ein. „Wir wurden häufig zusammen bestraft. Einmal wurden wir von einem Erzieher nackt im Waschraum in den Duschen vor allen aufgestellt und die Kinder durften uns hänseln. Anschließend hat er mich mit dem Gesicht in den vollgekoteten Po meines Leidensgenossen gedrückt, damit wir das „in Zukunft lieber sein lassen“.
Mit dem Gesicht in den vollgekoteten Po gedrückt
„Wir wurden häufig zusammen bestraft. Einmal wurden wir von einem Erzieher nackt im Waschraum in den Duschen vor allen aufgestellt und die Kinder durften uns hänseln. Anschließend hat er mich mit dem Gesicht in den vollgekoteten Po meines Leidensgenossen gedrückt, damit wir das „in Zukunft lieber sein lassen“.
Zahllose Vergewaltigungen durch männliche Erzieher
Sein schmerzvollstes Erlebnis hat nichts mit der Bettnässerei zu tun. Ein Erzieher fährt mit dem damals Zehnjährigen in einen Wald. „Als er seine Hose runterließ, sagte er mir, er wüsste, dass ich schon Erfahrung hätte.
Ich musste ihn mit Hand und Mund befriedigen. Er versuchte auch anal in mich einzudringen, aber das klappte nicht. Als ich vor Schmerzen weinte, sagte er immer wieder „Wir sind ja gleich fertig“. Er kam dann auf meinem Po. Ich hatte noch mehrere Tage danach Schmerzen.“
Heimleitung sieht weg
Nach diesem Ereignis wendet sich der Junge an die Heimleitung. „Mir wurde gesagt, wenn ich weiter solche Lügengeschichten erzählen würde, käme ich in ein Spezialheim, in dem es mir nicht so gut gehen würde wie hier.“
Die Erzieher wurden daraufhin strenger, seinen Peiniger habe er im Heim anschließend allerdings nicht mehr gesehen.
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Rico Wust erträgt sein Schicksal nicht mehr: Mit 17 Jahren begeht er einen Suizidversuch.
© Quelle: privat
Alles wird zu viel: Suizid ist der einzige Ausweg
Mit zwölf Jahren kommt Rico zurück zu seiner Mutter, mit 14 beginnt er eine Ausbildung zum Gleis-und Brückenbauer.
Nach dem Abschluss begeht er als Siebzehnjähriger einen Suizidversuch aufgrund der prekären Umstände zu Hause und der traumatischen Erlebnisse in der Vergangenheit. Jetzt wird ihm klar, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen muss. Er zieht in eine eigene kleine Wohnung und baut sich ein eigenständiges Leben auf. „Die Bettnässerei hörte dann von selbst auf“, sagt Rico Wust heute.
Rückfall durch Belästigung am Arbeitsplatz
Vor einigen Jahren wird der Oranienburger von seinem weisungsbefugten Sachbearbeiter am Arbeitsplatz sexuell belästigt. Diese Erfahrung wirft ihn zurück in seine Kindheit.
Nach zahllosen Klinikaufenthalten wird ihm Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen. Durch die Therapie wird Rico Wust bewusst, dass ihm dieser Zuspruch nicht ausreicht: „Ich will, dass strafrechtlich anerkannt wird, was die mit mir und tausenden anderen wehrlosen Kindern gemacht haben.“
Strafrechtliche Rehabilitierung: Rico Wust will Gerechtigkeit
Deshalb stellt er einen Rehabilitierungsantrag. Dieser dient der Überprüfung rechtsstaatswidriger strafrechtlicher Entscheidungen der ehemaligen DDR, darunter fallen auch Heimeinweisungsbeschlüsse.
Michael Körner, ein Mitarbeiter der Bürgerberatung zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Potsdam, weist dabei darauf hin, dass die Gerichte bei einer Rehabilitierung nicht auf die Zustände in den Heimen abstellen, sondern einzig darauf schauen, ob die Anordnung der Heimerziehung durch den Jugendhilfeausschuss politisch motiviert war oder sonstigen sachfremden Zwecken gedient hat.
Eine strafrechtliche Rehabilitierung hat rein politischen Hintergrund
Dazu erklärt er: „Dabei kommt es für die Rehabilitierung nicht darauf an, was den Kindern während des Heimaufenthaltes von den Erziehern oder den Mitinsassen angetan wurde. Es geht hier ausschließlich um die Rehabilitierung und damit die Anerkennung staatlichen Unrechts, nicht um die Straftaten des Personals, mögen sie auch noch so widerlich sein.“
Hinzu kommt, dass sämtliche in der DDR begangenen Straftaten bereits verjährt sind, mit Ausnahme von Mord. „Deshalb ist eine Strafverfolgung der einstigen Täter zum heutigen Zeitpunkt bedauerlicherweise nicht mehr möglich.“
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Rico Wust kämpft für Gerechtigkeit
© Quelle: privat
Rico Wust will auf das furchtbare erfahrene Unrecht aufmerksam machen
Rico Wust ist sich dieser Tatsache bewusst, deshalb wünscht er sich wenigstens, „dass Politiker und Verwaltung darauf aufmerksam machen, welche furchtbaren Dinge uns angetan wurden und was wir jetzt brauchen, um ein annähernd normales Leben führen zu können.“
Die Politik nimmt sich diesem Thema an
Die Bundesregierung will tatsächlich mehr für die DDR-Heimkinder tun. Im entsprechenden Passus im Koalitionsvertrag heißt es:
„Wir wollen die Erinnerungskultur und die Rehabilitierung der Opfer des SED Unrechtregimes weiterentwickeln und die Fristen für die Beantragung nach den Rehabilitierungsgesetzen im Einvernehmen mit den Bundesländern aufheben. Wir werden prüfen, inwieweit die bestehenden rechtlichen Grundlagen für die DDR-Heimkinder verbessert werden können.“
Zweifel an der Umsetzung in der Bundespolitik
Doch Michael Körner gibt zu Bedenken, dass diese Formulierung „leider sehr allgemein gehalten ist, so dass abzuwarten bleibt, inwieweit daraus tatsächlich etwas Positives für die DDR-Heimkinder erwächst.“
Der Landtagsabgeordnete Björn Lüttmann (SPD), der sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt hat, erklärt wiederum:
„Im November erst hat der Landtag einen überfraktionellen Antrag verabschiedet, der die Bundesregierung zu den Dingen auffordert, die jetzt im Bundes-Koalitionsvertrag stehen. Deshalb hoffe ich auch, dass die Bundesregierung diesen Worten Taten folgen lässt. Da die Legislaturperiode im Bund erst begonnen hat, sollten wir abwarten.“
Neuanfang in Oranienburg
Nach Oranienburg zieht es Rico Wust in den neunziger Jahren seiner großen Liebe wegen, mit der er nun auch verheiratet ist. Mit ihr versucht er einen Neubeginn: Er geht regelmäßig zur Therapie, die Stadt und die Umgebung sind für ihn vertraut geworden.
Von der brutalen Vergewaltigung, aus der Rico Wust entstanden ist, und der Inhaftierung seiner Mutter erfährt er erst im Januar 2018 durch einen Brief. Daraufhin telefonieren die beiden, nachdem sie seit 2014 keinen Kontakt mehr hatten. „Da hat sie überhaupt das erste Mal in meinem Leben so etwas wie eine Entschuldigung ausgesprochen für alles, was vorgefallen ist.“
Seine Wunden werden niemals heilen. Er nimmt täglich ärztlich verordnetes Cannabis auf eigene Kosten, „das macht mein Leben erträglich.“ Er gibt nicht auf und kämpft jeden Tag aufs Neue um ein Stück mehr Normalität im Alltag zu erreichen.
Von Josefine Kühnel
MAZ