Kevin: „Die netteste Lehrerin der Welt“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/2LLX7D2VZ3COA764ZOHCFLNX7Y.jpg)
Bilderalben und Grußkarten: Allerhand Erinnerungsstücke von ehemaligen Schülern haben sich im Verlauf der Jahrzehnte angesammelt.
© Quelle: Matthias Anke
Breddin. Wer nicht lesen kann, wäre schon mal nicht bis zu diesem Zeitungssatz hier gekommen. „Lesen ist das A und O“, sagt Ines Roß: „Dann geht auch alles andere.“
Ines Roß ist seit fast vier Jahrzehnten Grundschullehrerin. Ihre Freude auf jede neue erste Klasse, die sie bekommt, ist seit jeher ungebrochen. Und so aufgeregt, wie die Erstklässler bei ihrem allerersten Gang in den Klassenraum an diesem heutigen Sonnabend garantiert sind, ist wohl auch ihre neue Klassenlehrerin wieder. „Ich habe hier ganz schön gewirbelt in den vergangenen Tagen, auch vorige Woche schon“, erzählt die 57-Jährige.
Jeder Schüler wird persönlich willkommen geheißen
Ihr Raum in der Breddiner Löwenzahn-Grundschule erhielt in den zurückliegenden Sommerferien einen neuen Anstrich. Bis auf Brusthöhe eines Erwachsenen ist er orange, darüber weiß.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/4TDHAOA72S3IQPZXWUPRERNYH4.jpg)
Die Erstklässler werden von Ines Roß stets persönlich empfangen und so auch an diesem Sonnabend.
© Quelle: Matthias Anke
Auf jedem Platz steht eine kleine Überraschung mit einem laminierten Zettel. Unter dem Datum des heutigen Sonnabends, 18. August, steht: „Alles Gute zum Schulanfang. Ich freue mich auf Dich! Deine Klassenlehrerin Frau Roß.“
Die Wände hat sie neu dekoriert. „Wenn ich einschule, dann ist auch der Raum das A und O. Die Kinder sollen sich hier wohlfühlen. Deshalb ist es so bunt und warmherzig gestaltet wie möglich“, erklärt die Grundschullehrerin: „Sie verbringen hier ja mehr Zeit am Tag als zu Hause.“
Kinder bei Einschulung heutzutage beachtlich vorgebildet
Auf 22 Namenskärtchen steht, wer wo sitzt. „Ihren eigenen Namen lesen können die meisten Kinder ja schon.“ Und so vieles mehr. Überhaupt sei das Wissen in den Kinderköpfen heutzutage um ein Vielfaches umfangreicher, als noch in der Zeit, in der Ines Roß einst ihre Ausbildung begann. Zum einen liege das an der Vorbildung in den Kitas, zum anderen an einer größeren Altersspanne: Ein Schüler wird demnächst erst sechs Jahre, andere wiederum sind schon bald sieben Jahre alt.
Auf einem Tisch liegt eine Fibel – fast wie eh und je. Nur wurde die DDR-Version „Unsere Fibel“ zu „Meine Fibel“. Sie ist zeitgemäß. Auf dem Lehrbuch vom Verlag Volk und Wissen steht, dass es auch eine E-Book-Version davon gibt.
Auch die Mutter war Lehrerin
Ausgebildet wurde Ines Roß, die seinerzeit noch Priegnitz hieß und im Kyritzer Dorf Mechow aufwuchs, 1977 bis 1981 am Institut für Lehrerbildung in Potsdam. Auch ihre Mutter war Lehrerin: Ursula Priegnitz, heute 78 und in Kyritz zuhause, hatte vor 60 Jahren die Dorfschule in Mechow übernommen.
Tochter Ines gelangte nach Stationen bei Nauen, in Pritzwalk und in Vehlow für fast 20 Jahre an eine Kyritzer Grundschule. Den Umbruch vom Soziallismus in die neue Zeit machte sie mit, und er habe an ihrer Liebe zum Beruf nichts verändert. Sie, die dereinst auch mal als Pionierleiterin aktiv war und die Kritiken drumherum kennt, sagt heute: „Ich mache meine Arbeit von nichts abhängig.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/QO6IBGUCXVBVSUIKP7YWPHSRWY.jpg)
Bilderalben und Grußkarten: Allerhand Erinnerungsstücke von ehemaligen Schülern haben sich im Verlauf der Jahrzehnte angesammelt.
© Quelle: Matthias Anke
Heute jedoch sind die Schule bei Nauen, jene in Vehlow und die Kyritzer Lotte-Pulewka-Schule aber längst nicht nur ihre Geschichte, sondern überhaupt: Sie wurden abgerissen. „Ich sagte schon damals, dass es nicht lange dauert, bis man solche Schritte bereut“, sagt Ines Roß. Mit Blick auf die neuere Entwicklung, die von Platznot in so mancher Einrichtung geprägt ist, behielt sie recht. Aber auch ihr Institut für Lehrerbildung, später Fachhochschule, ist dieser Tage gerade erst aus dem Bild der Landeshauptstadt verschwunden.
Seit acht Jahren nun unterrichtet Ines Roß in Breddin. „Ich wollte meine Ideen unbedingt an einer Ganztagsschule umsetzen und wechselte deshalb hierher.“ Es sei die für sie beste Entscheidung gewesen. „Jeden Morgen fahre ich mit einem Lächeln auf den Lippen im Auto nach Breddin“, sagt sie: „Da mag mich gerne so mancher als verrückt betrachten. Aber es ist nun mal so. Es macht mir einfach noch immer unglaublich großen Spaß, den Kindern was beizubringen.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/WZOE4PI2WLUG65DPMMCJLA4U5U.jpg)
Bilderalben und Grußkarten: Allerhand Erinnerungsstücke von ehemaligen Schülern haben sich im Verlauf der Jahrzehnte angesammelt.
© Quelle: Matthias Anke
An der Art und Weise habe sich kaum etwas geändert. Roß spricht von der „analytisch-synthetischen Methode“, erwähnt Wortaufbau, Wortabbau, und dass nach wie vor zunächst so buchstabiert wird, wie die Buchstaben auch klingen. „Die Älteren haben das nur wieder vergessen.“ Es sei also schon immer so gewesen, dass das Wort Mama nach dem Klang buchstabiert wird und nicht etwa Emma-Emma.
Die Fahrt zur Arbeit beginnt für Ines Roß seit gut 20 Jahren in Gantikow, wo sie mit ihrem Mann lebt und wo im Garten so mancher Baum wächst, den ihr ehemalige Schüler und Eltern als Dankeschön einfach in die Erde setzten.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/QGIJM7BPOWOUYXFC6DT5SF32ZI.jpg)
Bilderalben und Grußkarten: Allerhand Erinnerungsstücke von ehemaligen Schülern haben sich im Verlauf der Jahrzehnte angesammelt.
© Quelle: Matthias Anke
Ines Roß hat zwei Söhne. „Die wurden aber nicht von mir unterrichtet, das hätte ich auch nicht so schön gefunden.“ Die Chance wäre groß gewesen. Schließlich unterrichtete Ines Roß auch schon ganze Generationen weiterer Schüler als Musiklehrerin. Und in Breddin kennen nahezu alle Schüler sie, da in der Regel jeder die Vorschule bei ihr besuchte.
Ines Roß sagt: „Mein Beruf ist mein Leben“
„Damit die Arbeit Freude macht, braucht es eine gute Zusammenarbeit mit den Kollegen und nicht zuletzt natürlich mit den Eltern der Kinder. Beides ist mir sehr wichtig“, sagt Ines Roß und formuliert es noch deutlicher: „Mein Beruf ist mein Leben. Neben den Kindern gehören also die Kollegen und Eltern dazu.“
Was mit jeder Einschulung freudig beginnt, endet in der Regel traurig: Nach vier, heutzutage oft schon zwei Jahren gibt Ines Roß ihre Klasse weiter. Die Erinnerungen aber bleiben, auch an die früheren Arbeitsorte. Einen ganzen Korb voller Grußkarten, Fotoalben und Danksagungen hat sie gesammelt. Vom kleinen Kevin zum Beispiel. Der schrieb ihr einst: „Liebe Frau Roß, Sie waren die netteste und unternehmungslustigste Lehrerin der Welt. Viel Spaß an der neuen Schule. Ich hoffe, dass wir uns wiedersehen und nie vergessen.“
An diesem Sonnabend nun, dem Einschulungstag, geht es im Klassenraum erfahrungsgemäß zügig voran. „Die Kinder und Eltern haben da ja noch ihre eigenen Feste im Anschluss vor sich. Am Montag aber geht es dann gleich richtig los.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/AM4U5XJGIQ7J76S4QT4XU2NNYA.jpg)
Der Klassenraum ist vorbereitet. Es kann losgehen mit dem neuen Schuljahr 2018/19.
© Quelle: Matthias Anke
Den Stundenplan hat die Lehrerin für alle vorbereitet. Auch mit dem Nachzählen von Büchern, Heften und anderen Materialien halte sich Ines Roß nie lange auf. „Wir wollen am Montag unter anderem ja das M schon schreiben“, sagt sie und klingt, als könne sie es selbst nicht erwarten: „Es ist eben das Schönste, was es gibt, den Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Das ist das Allerwichtigste.“ Klar: Eines Tages sollen sie es schließlich schaffen, auch mal einen solchen Text wie diesen bis hierher durchzulesen.
Von Matthias Anke
MAZ