Der braune Kreis Ruppin
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Gertrud Koss, flankiert von SA-Leuten in der damaligen Friedrich-Wilhelm-Straße (heute Karl-Marx-Straße) nahe dem Rheinsberger Tor. Sie wurde „in Schande“ durch die Stadt geführt, weil sie beim Horst-Wessel-Lied nicht aufgestanden war.
© Quelle: Regional-Verlag Ruppin
Neuruppin. Gertrud Koß hatte es gewagt, in Neuruppin beim Absingen des Horst-Wessel-Liedes sitzen zu bleiben. Im August 1933. Die Strafe dafür war ein Spießrutenlauf durch Neuruppin – und jede Menge öffentliche Empörung.
Die „Lindower Zeitung“ ereiferte sich in ihrer Ausgabe vom 30. August 1933: „Eine junge Friseuse aus Berlin, wahrscheinlich ein schnoddriges Ding, … blieb bei diesem Lied in böswilliger Absicht sitzen. Natürlich wurde sie festgenommen, damit man ihr und zugleich vielen anderen ,Gleichgesinnten’ ins Hirn prägen kann, wie ein junger Deutscher sich zu benehmen hat.
Das Fräulein wurde in Begleitung eines SA-Kommandos durch die Straßen von Neuruppin geführt. Man hatte ihr zwei Schilder umgehängt, auf denen zu lesen stand: ,Ich schamlose Person, Gertrud Koß aus Berlin Charlottenburg, habe es gewagt, beim Absingen des Horst-Wessel-Liedes sitzen zu bleiben, damit die Opfer der nationalsozialistischen Erhebung zu verhöhnen.’“
50 Mark Arbeitslosengeld im Monat
Auch in Neuruppin hatte der Nationalsozialismus sich ausgebreitet, sogar mehr als andernorts.
In ganz Deutschland hatte seit dem Ende der 1920er Jahre große Not geherrscht. Die Jahre ab 1929 waren von der Weltwirtschaftskrise geprägt. Auch in Deutschland fehlte den Banken das Geld zur Förderung der Wirtschaft. Das hatte Arbeitslosigkeit und einen ständigen Rückgang der Kaufkraft zur Folge – eine Abwärtsspirale ohne Ende.
1931 betrugen die monatlichen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur noch 52,83 Reichsmark. Damit konnte der Bedarf an Grundnahrungsmitteln einer vierköpfigen Familie nicht mehr gesichert werden. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung lebte nur noch von Almosen.
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Die SA führt im Juni 1933 den Neuruppiner KPD-Mann Erich Schulz (1908-1950) demonstrativ durch die Neuruppiner Straßen, ehe sie ihn ins gerade gegründete KZ Neuruppin steckt. Schulz hatte Reichstagswahlen am 5. März 1933 kandidiert. Von Januar 1948 bis April 1949 war er Bürgermeister der Stadt Neuruppin.
© Quelle: Regional-Verlag Ruppin
Zugleich entbrannte in Deutschland ein politischer Machtkampf zwischen der Sozialdemokratischen Partei (SPD), der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der Kommunistischen Partei (KPD) und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP).
Zunächst schienen die Nationalsozialisten keine Rolle zu spielen. Die Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 hatten in Neuruppin folgende Stimmenverteilung ergeben: SPD 36,6 Prozent DNVP 24,2 Prozent, KPD 4,3 Prozent und NSDAP 1,5 Prozent. Die NSDAP-Ortsgruppe Neuruppin war erst im Januar 1928 gegründet worden.
30,5 Prozent der Ruppiner wählten schon 1930 die NSDAP
Schon zwei Jahre später gab es bei der Wahl im Kreis Ruppin eine gravierende Veränderung. Der Stimmanteil der NSDAP stieg auf 30,5 Prozent.
Damit lag sie deutlich über dem Gesamtergebnis im Deutschen Reich (18,3 Prozent) und erhielt von allen Bewerbern im Kreis Ruppin knapp vor der SPD (28,3 Prozent) die meisten Stimmen.
Während in den Städten, außer in Wusterhausen, die SPD vor der NSDAP lag, konnte die NSDAP in 75 von insgesamt 124 Gemeinden des Kreises anteilig die meisten Stimmen auf sich vereinen. Der Kreis Ruppin hatte sich zu einer Hochburg der Nationalsozialisten entwickelt.
Am 10. April 1932 kandidierten im zweiten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl Hindenburg (bisheriger Reichspräsident), Hitler (NSDAP) und Thälmann (KPD). Im Reich lag Hitler mit 36 Prozent der Stimmen deutlich hinter Hindenburg, der 53 Prozent der Stimmen bekam.
Größere Hitler-Zustimmung in Neuruppin als im Deutschen Reich
Wäre die Wahl jedoch allein nach dem Willen der Ruppiner ausgegangen, so hätte Hitler im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit mit 48 Prozent nur knapp verfehlt, sie im zweiten Wahlgang jedoch mit 55 Prozent erreicht.
Am 31. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Märkische Zeitung berichtet am Folgetag: „Neuruppin erlebte aus diesem Anlass einen ‚Fackelzug der nationalen Front‘.
Gemeinsam marschierten am Abend ab 8.15 Uhr 450 SA-Leute und 350 Mitglieder des Stahlhelms (Bund der Frontsoldaten des I. Weltkrieges) mit Fackeln und Fahnen durch die Stadt zum Paradeplatz. Nach dem dortigen Vorbeimarsch an der Führerschaft wurde begeistert mit der tausendköpfigen Menschenmenge das Deutschlandlied gesungen.“
Am 12. März 1933 fanden die Kommunalwahlen in der Provinz Brandenburg statt. Die „Märkische Zeitung“ veröffentlicht neben den Kandidatenlisten der NSDAP mit 31 Kandidaten und der Kampffront „Schwarz-Weiß-Rot/ Konservative“ mit 34 Kandidaten auch die Listen der SPD (25 Kandidaten) und der KPD (11 Kandidaten). Den Lesern wurde aber schon vorab mitgeteilt, dass es sich erübrige, „über die Liste der KPD überhaupt ein Wort zu verlieren“.
Die Nationalsozialisten dominieren Stadt- und Kreisparlament
Die Wahlen fallen dann auch „wunschgemäß“ aus. Im Neuruppiner Stadtparlament erringt die NSDAP 16 Mandate, der Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot sieben, die SPD fünf und die KPD kein einziges.
Das Ergebnis bei den Kreistagswahlen ist noch deutlicher. 17 Sitze gehen an die NSDAP, nur fünf an die „Schwarz-Weiß-Roten“, vier an die SPD und eins an die KPD.
Prozentual erreichte die NSDAP in Wusterhausen mit 66 Prozent ihr bestes Ergebnis, in Neustadt (Dosse) war der Kampfbund „Schwarz-Weiß-Rot“ mit 42 Prozent der Stimmen großer Wahlsieger – hier waren die Nationalsozialisten auch nicht mit einer eigenen Wählerliste angetreten. Die SPD erzielte ihr bestes Ergebnis mit 28 Prozent in Alt Ruppin, und die KPD konnte mit 17,5 Prozent der Stimmen im „roten Rheinsberg“ ihr bestes Ergebnis verbuchen.
Ab April 1933 heißt der Schulplatz Adolf-Hitler-Platz
Zum Geburtstag Adolf Hitlers am 20. April 1933 erreichte die Propaganda in der „Märkischen Zeitung“ ein kaum noch zu überbietendes Maß an Personenkult. „Fahnen, Fahnen – ein ganzes Fahnenmeer leuchtet in schwarz-weiß-roten Farben von Türmen, Dächern, aus Fenstern und Giebeln. Hitler-Bilder in allen Größen mit Blumen und Lorbeer umkränzt. Hakenkreuz-geschmückte Fenster überall ... Freudig glänzende Augen, dankbar gefaltete Hände – Glockenklang über Stadt und Dorf.“
Zur „großen Freude der Neuruppiner“ wurde mitgeteilt, dass Hitler seine persönliche Zustimmung zur Benennung des Schulplatzes in Adolf-Hitler-Platz gegeben habe. Gleiches geschah in Alt Ruppin. Die andere Seite der Geschichte ist der Aufruf der NSDAP an alle „besitzenden Schichten“, Lebensmittel und Geld zu spenden, damit „am Führergeburtstag kein Deutscher hungern muß“.
Von Peter Pusch