Avantgarde und Punkrock in der siechen DDR
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Helen Thein-Peitsch, Katja Dietrich-Kröck und Jörg Hafemeister am Donnerstagabend im Potsdam-Museum.
© Quelle: Bernd Gartenschläger
Innenstadt. „Als wir uns 1989 trafen, 1988 oder 1987, haben wir nicht gleich miteinander gesprochen, denn da fiel der Altersunterschied viel mehr ins Gewicht.“ Das sagte Susanne Fienhold-Sheen vom Förderverein des Potsdam-Museums am Donnerstagabend zum Auftakt der vierten Zeitzeugenrunde zur Friedlichen Revolution 1989 in Potsdam.
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Der Lindenpark-Tresen um 1990.
© Quelle: Privat
Zum zweiten Mal ging es in dieser Reihe im Potsdam-Museum um die Kulturszene, und der außergewöhnliche Andrang wird auch mit den Adressen zu tun haben, für die die Gesprächspartner standen.
Der Grafiker Jörg Hafemeister, zum Mauerfall 29 Jahre alt, kam 1985 in den Babelsberger Lindenpark, der sich in den 1980er Jahren von der biederen Tanzgaststätte zum rebellischen Club mit Avantgarde und Punkrock mausern sollte, der schließlich mit dem Perfomance-Festival "Art Betweens" im September 1989 den Untergang der DDR schon einmal künstlerisch vorweg exerzieren sollte.
Die Bibliothekswissenschaftlerin Helen Thein-Peitsch, im Wendeherbst 20 Jahre jung, erlebte ihren persönlichen Mauerfall bereits 1986 mit dem Umzug aus einem Plattenbau in Potsdam-West zur damaligen Boheme im Holländischen Viertel.
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Räumung der Fabrik im September 1993.
© Quelle: Christel Köster
1990 gehörte sie zu den Gründerinnen des autonomen Kulturzentrums Fabrik in der Gutenbergstraße, dessen Spuren sich nach der gewaltsamen Räumung 1993 bis heute im Kulturviertel Schiffbauergasse ebenso wie im linksalternativen Kulturzentrum Archiv an der Leipziger Straße wiederfinden. Helen Thein-Peitsch sagt: "Mit der Räumung der Fabrik fing die Gentrifzierung der Innenstadt an."
Katja Dietrich-Kröck, zum Mauerfall gerade einmal 18-jährig, gehörte ab 1993 über mehr als 15 Jahre zu den prägenden Menschen des anfangs noch anarchischen Waschhauses. Mit ihr ließ Fienhold-Sheen, zum Mauerfall 23-jährig, den Abend beginnen.
Dazu blendete die Moderatorin eine Aufnahme des Instituts für Lehrerbildung (IfL) mit dem Gebäude der späteren Fachhochschule ein. Katja Dietrich-Kröck bekannte freimütig, dass sie sich bei der Berufswahl vertan hatte.
Am IfL wurden Unterstufenlehrer und Pionierleiter ausgebildet. Einmal dorthin verpflichtet, war es nicht einfach, ohne schwere Nachteile für den weiteren Lebensweg wieder auszuscheren.
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Das Institut für Lehrerbildung um 1980.
© Quelle: Potsdam Museum/Heinz Gerard
Katja Dietrich blieb und übernahm ehrenamtlich die Leitung des Studentenclubs im heutigen „Pub a la Pub“. Sie organisierte Studententheater und Podiumsrunden wie zu der politisch äußerst umstrittenen Inszenierung „Wolokolamsker Chaussee“ am Hans-Otto-Theater, engagierte kontroverse Künstler wie Gerhard Gunderman und konstatiert heute: Es habe immer „unheimlich lange gedauert“, bis „die was mitbekamen. Dann wurde es aber unangenehm“. So habe sie für ein Heinrich-Böll-Zitat an der Litfaßsäule des Clubs ein regelrechtes Tribunal über sich ergehen lassen müssen.
Ihr einschneidendes Erlebnis aber war die erste Demonstration des Wendeherbstes in Potsdam am 7. Oktober 1989. „Es war das erste Mal, dass ich mit meinen 18 Jahren Staatssicherheit und Polizei auch physisch erlebt habe. Plötzlich wurden Leute neben dir gefangen genommen. Mit diesem Eindruck bin ich am Montag zum IfL. Da hieß es, das sei die Konterrevolution. Und ich sagte: Nee, es war anders rum.“
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Die Demonstration am 7.Oktober 1989 in der heutigen Brandenburger Straße.
© Quelle: Potsdam-Museum/Frank Gaudlitz
Auch Helen Thein-Peitsch war bei dieser Demonstration. „Was mich überrascht“, sagt sie: „In meiner Erinnerung waren es gar nicht so viele Menschen. Wir waren ganz wenige und die Polizisten waren sehr viele. Die Staatsmacht war plötzlich sehr präsent.“
Jörg Hafemeister schilderte mit dem Lindenpark die Entwicklung eines Clubs, der „immer extremer wurde“, in dem zum Ende der DDR mit dem Festival „Art Betweens“ Dinge stattfanden, die „selbst in Berlin nicht mehr gingen“.
Der Lindenpark war allerdings nicht nur Punkrock und Alternativkultur, sondern ebenso eine Hochburg des Karnevals, sagt der Cartoonist. Es war eine ironische Fügung, dass Jörg Hafemeister ausgerechnet am 9. November 1989 „zwischen den Pappnasen“ an einem Plakat zum Faschingsmotto „Eine Reise um die Welt“ arbeitete. Das war „schon eine schöne Provokation“, sagt er, denn an dem Tag waren die Grenzen noch zu.
Seine Stasi-Akte wurde knapp zwei Wochen nach der Maueröffnung am 22. November 1989 mit dem Vermerk geschlossen, dass die „Gefahr einer Republikflucht unter den aktuellen Umständen nicht mehr gegeben“ sei.
Von Volker Oelschläger