Die erste fahrerlose Straßenbahn der Welt
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Die „Hörnchen“ links und rechts des Richtungsanzeigers der „Perugia“-Tram sind Instrumente der Fahrassistenz. Wo zwischen den Scheinwerfern einst das ViP-Logo zu sehen war, sind weitere Instrumente des Selbstfahrsystems eingebaut.
© Quelle: siemens
Potsdam. In Potsdam wird die erste fahrerlose Tram der Welt erprobt. Siemens als Hersteller der Combino-Straßenbahnen hat dazu von der ViP Verkehrsbetrieb Potsdam GmbH ein sechs Kilometer langes Gleis zwischen den Wohngebieten Stern und Drewitz sowie eine Combino-Bahn zu Testzwecken zur Verfügung gestellt bekommen.
Der Erstlings-Combino ist der Testzug
Es handelt sich um den Zug 400, den Prototypen der Potsdamer Combinos, benannt nach der italienischen Partnerstadt Perugia. Er wurde 1996 in Dienst gestellt und läutet nun ein dramatisch neues Zeitalter der Personenbeförderung ein, denn Straßenbahnen gelten innerstädtisch als effektivstes Transportmittel überhaupt, müssen sich aber den in Potsdam sehr beengten Straßenraum mit Bussen, Autos, Lastern, Fahrrädern und Fußgängern teilen. Das stellt nach Einschätzung der ViP höchste Anforderungen an die bereits in der Bahn verbauten Fahr-Assistenzsysteme, die man schon aus Autos kennt: Das Entwicklungsfahrzeug ist mit mehreren Lidar-, Radar- und Kamerasensoren ausgestattet, die als „digitale Augen“ das Fahrzeug und sein Verkehrsumfeld erfassen. Gleichzeitig interpretieren und bewerten komplexe Algorithmen als „Gehirn“ die jeweilige Fahrsituation; sie geben eine Prognose zur weiteren Entwicklung und lösen die erforderliche Reaktion der Tram aus. Dank künstlicher Intelligenz wird dabei auf Straßenbahnlichtsignale geachtet, an den Haltestellen gestoppt und eigenständig auf Gefahren wie kreuzende Fußgänger und Fahrzeuge reagiert.
Die Testfahrten laufen sicher und kontrolliert ab. In der Fahrerkabine gibt es einen weiteren Platz für einen echten Fahrer der ViP, der jederzeit in das Fahrgeschehen eingreifen und eine Notbremsung durchführen kann. Dies war die Voraussetzung, um die Testfahrten im realen Straßenverkehr durchführen zu dürfen.
Haltestellen müssen extra gesichert werden
Damit es an Haltestellen keine Probleme mit wartenden und zusteigenden Personen oder auch Gleisüberquerern gibt, müssen im Falle eines regulären Betriebs die Bahnsteige solange vom Gleis abgeriegelt werden, bis der Zug steht. Zwar ist die gesamte Autonomietechnik im und am Fahrzeug verbaut, doch ohne die Sicherung der Haltestellen geht gar nichts.
Wie am Montag aus dem Verkehrsbetrieb zu hören war, ist das neue System am schnellsten und wahrscheinlichsten in Siedlungen einsetzbar, die völlig neu gebaut werden, weil dann alle Komponenten gleich mit geplant und gebaut werden können. In solchen Siedlungen könnte es fahrerlose Trams schon in den 2020er Jahren geben. Als „Nachrüstung“ in einem fahrerbasierten System und innerstädtischen Netz wie Potsdam ist das dem Vernehmen nach noch „ferne Zukunftsmusik“.
Personalabbau ist eher unwahrscheinlich
Die Annahme, dass autonom fahrende Bahnen zum Personalabbau führen, tritt der ViP entgegen mit dem Argument, man brauche dann mehr Leute in der Steuerung und Wartung des Systems. Auch die Werkstätten müssten dann angepasst werden. Nicht gewollt ist, dass an irgendeinem Punkt im Netz doch noch ein Mensch in den Führerstand steigen muss, etwa, um den Zug in die Waschanlage zu bringen. Auch das müsste fahrerlos passieren.
Siemens Mobility testet das System von 18. bis 21. September auf einem zwar realen, aber doch stadtverkehrsfernen Abschnitt des ViP-Netzes. Im regulären Betrieb überall in Potsdam bräuchte es eine gesonderte Zulassung. Am Compter simuliert wurde alles schon; es fehlt noch der Praxistest.
Die Berlin-Nähe brachte Potsdam ins Spiel
Dass Siemens auf Potsdam als Austragungssort kam, liegt daran, dass die entsprechende Forschungsabteilung in Berlin-Adlershof sitzt, also fast nebenan. Der Umbau des Perugia-Zuges hat den ViP nichts gekostet. Wieviel er Siemens kostet, war am Montag nicht zu erfahren. Für den ViP ist der Test vor allem wichtig, um Fahrassistenzsysteme auszuprobieren, die bei künftigen Straßenbahnbestellungen einsetzbar sein könnten, um Unfälle zu vermeiden beziehungsweise die Schwere von Unfallschäden zu senken.
„Diese Weltpremiere zeigt, wie wir die Mobilität der Zukunft aktiv gestalten. Unsere autonome Tram kann bereits in diesem Entwicklungsstadium die wesentlichen Fahraufgaben im realen Straßenverkehr meistern. Mit dem Kollisionswarnsystem ‚Siemens Tram Assistant‘, das unter anderem beim Avenio M in Ulm zum Einsatz kommt, haben wir bereits Serienreife erreicht – ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum autonomen Fahren. Indem wir Züge und Infrastruktur intelligent machen, können wir Verfügbarkeiten garantieren und die Sicherheit im Nah- und Fernverkehr erhöhen“, sagt Sabrina Soussan von Siemens Mobility.
Von Rainer Schüler
MAZ