Nicht genesen: Potsdamer Long-Covid-Patientin über ihren Kampf gegen die unerforschte Krankheit
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Gina Konarski (22) aus Potsdam ist an Post Covid erkrankt. Die Jurastudentin kämpft jeden Tag mit Schmerzen und Erschöpfung.
© Quelle: Julius Frick
Potsdam. Da sitzt sie. Die kalte Wand im Rücken. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Über ihr in Reih und Glied die Briefkästen. Zur Rechten die Haustür. Nur ein Schritt trennt sie von dem strahlenden Frühlingstag dort draußen. Ein Schritt zu viel. Die Treppe hat Gina Konarski (22) in die Knie gezwungen. Jetzt sitzt sie auf dem blanken Stein und wartet. Die Uhr an ihrem Handgelenk zählt die Pulsschläge. 172 waren es in der vergangenen Minute: Herzrasen. Nachbarn eilen vorüber. Ältere Damen, alte Herren, rüstig, wie man zu sagen pflegt. Sie gehen zum Einkaufen und kommen vom Arzt. Sie geben sich die Klinke in die Hand und grüßen einander sachlich. Der jungen Frau zu ihren Füßen nicken sie zu. Sie wissen, dass sie ganz oben im Haus wohnt. Sie wissen, dass sie krank und die Treppe unerbittlich ist. Sie haben Gina Konarski hier schon öfter um Luft ringen sehen. Was ihr genau fehlt, wissen sie nicht.
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Was ihr genau fehlt, wie man ihr helfen, sie gar heilen kann, das weiß auch die Medizin nicht, denn Gina hat Post Covid, auch Long Covid genannt. Die Potsdamerin ist nach zwei Coronavirus-Infektionen im letzten Jahr nicht wieder gesund geworden, sondern immer nur noch kränker. Ihr Zustand hat sich über Monate hinweg verschlechtert. Schleichend. Unaufhaltsam.
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Gina wohnt im fünften Stock – ohne Fahrstuhl. Die Treppe ist unerbittlich. Egal, ob hoch oder runter: Die junge Frau muss mehrere Pausen machen.
© Quelle: Julius Frick
Ginas Zustand zu beschreiben, ist schwierig – die Beschwerden sind vielfältig und komplex und sie scheinen sich in wechselndem Zusammenspiel und in wechselnder Intensität gegen sie zu verbünden. Gina leidet unter andauernder Erschöpfung und bleierner Müdigkeit, unter Muskelschwäche und neurologischen Ausfällen, unter Herzrhythmusstörungen, Schwindel und Sehstörungen, unter Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen. Sie hat Nerven-, Gelenk- und Muskelschmerzen, sie spürt einen beständigen Druck auf der Brust, ein Brennen und Engegefühl. Schon kleinste Belastungen – egal, ob körperlich, geistig oder emotional – sind zu viel. Corona hat Gina zu einem Pflegefall gemacht. Während sich die Welt vor ihrem Fenster weiterdreht, als wäre die Pandemie nur ein Fiebertraum gewesen, liegt sie die meiste Zeit im Bett und fragt sich: „Ist das jetzt mein Leben?“
Von Anfang an vorsichtig durch die Coronavirus-Pandemie
Sie war voller Ideen, voller Wünsche, Träume und Pläne. Gina hat 2020 das Abitur abgelegt. Als Ende Februar Mutmaßungen die Runde machten, in Süddeutschland würden womöglich Schulen geschlossen, die Abiturprüfungen verschoben, war das für sie und ihre Freunde undenkbar. „Wir haben uns ungläubig angeguckt: Stellt euch mal vor, das kommt auch nach Brandenburg! Stellt euch mal vor, die verschieben das Abi! Nein, das würde gar nicht gehen… – Und einen Monat später war es dann tatsächlich soweit.“ Das Coronavirus durchkreuzt die letzten Schultage, es nimmt dem Jahrgang die Mottowoche, den Abistreich, die gemeinschaftliche Prüfungsvorbereitung, den Abschlussball. „Immerhin hatten wir eine Zeugnisausgabe“, sagt Gina. Die Eltern mussten draußen bleiben. „Das war schon traurig.“
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Gina hofft wie viele andere Long-Covid-Patienten auch auf die Apherese. Doch die Blutwäsche ist teuer und wird von der Kasse nicht bezahlt – deshalb sammelt Ginas Familie Spenden für die Behandlung.
© Quelle: privat
Noch bevor es Pflicht wird, trägt Gina Maske. „Ich war von Anfang an sehr vorsichtig“, sagt sie. „Nicht, dass ich ultra Angst gehabt hätte. Ich dachte einfach: Lieber kein Risiko eingehen.“ Als die Schutzmaßnahmen gelockert wurden, sei natürlich auch sie ein bisschen lockerer geworden. „Aber es war mir nie egal.“ Mal wieder mit Leuten auf der Wiese im Park sitzen, schwimmen, Karten spielen, Rollschuh laufen. Darauf hatte sie sich gefreut. „Großveranstaltungen? Nein. Ich habe immer klar die Grenzen gezogen.“ Im August 2021 und im Januar 2022 lässt sie sich gegen das Virus impfen. Im März 2022 infiziert sie sich zum ersten, im Juni zum zweiten Mal. Seither ist nichts mehr, wie es war. Und nichts ist, wie es sein sollte.
Gina hat lange überlegt, ob sie über das Long-Covid-Leben reden will
Gina kann ihr Jura-Studium, das sie mit großer Verve begonnen hat, nicht fortführen, ja sie kann nicht mal mehr längere Zeit lesen. Allein sich aufzurichten, jagt ihren Puls in die Höhe. Gehen, stehen, sitzen, sprechen, das alles raubt ihr die Kraft. Lange hat sie nachgedacht, ob sie von sich erzählen, ihre Hilfsbedürftigkeit offenbaren möchte. „Aber ich weiß, dass ich damit etwas Gutes tue“, sagt sie. „Es ist wichtig zu zeigen, wie furchtbar Long Covid ist. Es gibt viele, viele, die es schlimm getroffen hat, vor allem im jungen Alter.“
Mehr als eine Million Menschen in Deutschland leiden an Long Covid
Eine Anfang 2023 veröffentlichte Studie ergab, dass rund zehn Prozent der bis dato weltweit offiziell gezählten 651 Millionen infizierten Personen an anhaltenden Symptomen leiden. In Deutschland geht man von mehr als einer Million Betroffener aus – eine Pandemie der Nichtgenesenen, die auf ein riesiges Versorgungsdefizit treffen. Denn eine gezielte Behandlung von Long Covid ist noch nicht möglich. Die Erforschung der neuen Erkrankung hat gerade erst begonnen. Sicher ist – und das legt auch Ginas Krankengeschichte nahe: Die Therapie ist eine interdisziplinäre Herausforderung – und sie ist eine Frage von Hartnäckigkeit, eine Frage des Geldes und des Wohnortes.
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Gina hat sich auch einigen Hyperthermie-Behandlungen unterzogen. Dabei wird die Körperkerntemperatur kurzfristig auf 39 Grad erhöht.
© Quelle: privat
Auch Gina ist von Arzt zu Arzt geirrt. Der Mut der Verzweiflung hat sie getragen, denn ihre Beine konnten es oft nicht. Aber sie hat das Glück, eine starke Mutter an der Seite zu haben, die für sie plant, Termine vereinbart und sie von A nach B fährt, die Anträge auf Bürgergeld und auf eine Pflegestufe stellt und auch mal auf den Tisch haut, wenn sie das Gefühl hat, dass ihr krankes Kind nicht ernst genommen wird. Inzwischen wird Gina in einer Potsdamer Praxis behandelt, die Partner im Netzwerk DiReNa (Diagnostik, Rehabilitation, Nachsorge) ist. DiReNa berät und begleitet Long-Covid-Betroffene in Brandenburg.
Apherese soll Gina helfen, aber die Kasse zahlt nicht für die Blutwäsche
Die Praxis bietet das Apherese-Verfahren an, mit dem krankmachende Substanzen aus dem Blut entfernt werden können. Viele Long-Covid-Betroffene hoffen auf die Blutwäsche. Doch Experten sind verschiedener Meinung und wissenschaftlich belastbare Belege für die Wirkung liegen noch nicht vor. „Wichtig ist doch, wie ich mich fühle“, sagt Gina. „Und ich fühle mich nach der Apherese besser.“ Die Krankenkasse zahlt die teure Behandlung nicht. Dank Spenden, die sie auf der Online-Plattform „Go fund me“ sammelt, konnte Gina sich bisher fünf Apheresen und fünf Hyperthermie-Behandlungen (dabei wird die Körperkerntemperatur auf 39 Grad erhöht) unterziehen. Der Preis: 15.000 Euro. Der Effekt: „Wenn ich jetzt einen Crash habe, knockt der mich nicht mehr für fünf oder sechs Tage aus, sondern nur noch zwei oder drei.“
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Zu Zusammenbrüchen kommt es immer dann, wenn Gina ihre eng gesteckten Grenzen überschreitet. Beispiel Weihnachten. Der Bescherung mit der Familie folgte ein Crash und hielt vier Tage an. „Eigentlich länger“, sagt Gina. „Aber ich wollte Silvester nicht auch die ganze Zeit liegen.“ Also setzte sie sich zu ihrem Freund ans Raclette – und kassierte die Quittung. „Danach ging’s richtig bergab.“ Eine Woche lag sie flach. Im Kalender der Pulsuhr, in dem sie das Auf und Ab festhält, um ihren Körper verstehen zu lernen, hat sie „Fetter Crash als Strafe“ notiert.
Selbst Licht wird für die Potsdamerin durch Post Covid unerträglich
An Crash-Tagen ist sie voller Leid und Schmerz. Dann sind selbst leise Geräusche und Licht unerträglich. Jetzt, da sie das Muster hinter den Crashs erkannt und die Limits ausgelotet hat, dosiert Gina ihre Energie. Und geht manchmal aufs Ganze. „Für gesunde Menschen klingt es sicher absurd, aber ich wäge inzwischen jeden Tag ab. – Was ist es mir wert zu crashen? Ich muss doch auch mal etwas Schönes erleben.“
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Geschafft! Nur selten schafft es Gina nach draußen. Für den Weg über die Treppen reicht ihre Kraft meist nicht aus.
© Quelle: Julius Frick
Long Covid greift nicht nur den Körper an, sondern auch die Seele, geht oft mit Depressionen einher. Gina hat auch dafür professionelle Hilfe. „Ich habe mich entschlossen, mich an die Hoffnung zu hängen“, sagt sie – und doch ringe sie mit der Angst, dass sich ihr Zustand nie mehr verbessert, dass ihr Körper sie vollends im Stich lässt. „Die Angst wächst an Tagen, an denen die Schmerzen sehr stark sind oder sich anders anfühlen. Noch öfter kommt die Angst in der Nacht.“ Dann beruhigt sie sich mit Atemübungen, sagt sich: Es wird dich nicht umbringen. „Aber ja, ich hatte viele Nächte, in denen ich Todesangst hatte, in denen ich nicht wusste, ob ich am nächsten Morgen wieder aufwache. Und es gab Momente, in denen ich so erschöpft war, dass ich dachte: Dann ist es jetzt so.“
Gina hat treue Helfer an ihrer Seite – Long Covid setzt auch ihnen zu
Die Zuversicht nicht verlieren. Geduldig sein. Kämpfen. Weiter kämpfen. „Das schaffe ich nicht immer“, sagt Gina. Sie besinne sich auf ihre Anker. Auf die Mutter, die für sie da ist, auch wenn es ihr den Boden unter den Füßen wegreißt, die lebenslustige Tochter so zu sehen. Auf Moses, den sie am Valentinstag vor drei Jahren zum ersten Mal geküsst hat und der sie nun kilometerweit im Rollstuhl durch die Stadt schiebt, ihr das Gefühl gibt, dass sie – egal, was sie gerade kann oder nicht kann – liebenswert ist wie eh. Auf Marla, die Freundin, die nicht lange fackelt, sondern hilft, mit der sie „einfach nur sein“ kann. Post Covid brennt auch die Nächsten aus.
Umzug würde helfen, denn Post Covid macht Wohnung zum Gefängnis
Sie hat noch immer Ziele. „Gesund werden. Zur Uni gehen. Umziehen!“ Sie war happy in der kleinen Wohnung im fünften Stock. 24 Quadratmeter, kein Balkon, kein Fahrstuhl: Heute ist das Nest ein Gefängnis. Gina hat bei Vermietern angefragt und auf ihre Lage verwiesen – nichts. Sie hat einen Wohnberechtigungsschein beantragt und zur Antwort erhalten, dass allein die Bearbeitungszeit vier Monate beträgt.
Potsdamer Betroffene: „Menschen mit Post Covid werden vergessen“
Gina Konarski kauert an der Haustür und wartet, dass ihr Puls unter 100 sinkt. Sie muss dann aufstehen, den Rollator auffalten, die Tür öffnen und über die letzte Stufe in die Welt treten, in der sie nur noch selten Gast ist. Sie wird nach wenigen Schritten eine Pause machen. Sie sagt: „Das Schlimme ist, dass die Menschen mit Post Covid zu Hause sitzen und vergessen werden.“
MAZ