Diesmal zum wirklich aller-aller-allerletzten Mal?
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Nur noch drei Wochen lang rollt der rote Brummer der Hanseatischen Eisenbahngesellschaft wie hier zwischen Laaske und Jakobsdorf durch die Landschaft. Quelle: Christian Schmettow
Putlitz. Türen schließen selbsttätig? Nicht in diesem Zug. Es gab mal eine Zeit, da schlossen sich Zugtüren erst dann, wenn die Eisenbahn wirklich abfuhr. Wer sich am Bahnsteig verabschieden wollte, der bekam nicht ständig die Tür vor der Nase zugeschlagen; der musste nicht im Zehnsekundentakt einen Knopf drücken, um sie wieder zu öffnen. Man konnte sogar noch ein Fenster aufschieben – und wenn der Zug die Fahrtrichtung änderte, mit einem Griff die Sitzlehne umklappen und vorwärts sitzen.
So ein Zug ist das, der von Pritzwalk nach Putlitz fährt. Ein Uerdinger Schienenbus vom Typ VT 95, Baujahr 1956, dunkelrot, 56 Sitzplätze, das westdeutsche Pendant zur Görlitzer „Ferkeltaxe“.
Der Fahrschein kostet 2,70 Euro
Die Türen schließen nicht selbsttätig. Sie bedürfen der Hilfe des Fahrgastes. Rumms! Die vier Segmente klappen zusammen. An heißen Tagen bleiben sie auch mal offen wie in den alten Berliner S-Bahn-Wagen. Der Fahrtwind kühlt zuverlässiger als manch moderne Klimaanlage. Woanders kosten Nostalgie-Fahrten mit alten Zügen heute richtig Geld. Zwischen Pritz walk und Putlitz ist der Einzelfahrschein für 2,70 Euro zu haben.
300 PS aus zwei Dieselmotoren
300 Diesel-PS setzen den 21 Tonnen schweren Schienenbus in Bewegung. Fünf Fahrgäste schauen dem Fahrer über die Schulter. Ein junger Mann ist extra aus Berlin in die Prignitz gekommen. Er habe heute frei und wollte noch einmal Schienenbus fahren, erzählt er. Was eigentlich die Schüler zum Gymnasium und die Dorfbewohner zum Einkaufen oder zum Arzt bringen soll, entwickelt sich zur Touristenattraktion. Denn die Tage der Eisenbahn zwischen Pritzwalk und Putlitz sind gezählt – wieder einmal. Ende Juli soll hier der wirklich aller-aller-allerletzte Zug fahren.
2007 rettete ein Verein die Schiene
Wohl keine Bahnstrecke in Brandenburg ist so oft für tot erklärt worden wie die Regionalbahn 70 nach Putlitz – und noch jedes Mal wieder auferstanden wie Phoenix aus der Asche. „Wenn die Bahnstrecke von Pritzwalk nach Putlitz eine Katze wäre, dann wäre sie jetzt vermutlich in ihrem achten Leben“, schreibt Sören Heise im Internetforum der Eisenbahnzeitschrift Drehscheibe. Schon in den 90er Jahren wollte die Bahn die Strecke loswerden. 1996 übernahm die neu gegründete Prignitzer Eisenbahn den Verkehr. Ende 2006 war dann Schluss, im Sommer 2007 fuhr der Zug wieder, im Dezember 2012 drohte erneut das Aus.
Verkehrsminister der SPD kürzen beim öffentlichen Nahverkehr
2006 hatten die damaligen SPD-Verkehrsminister Frank Szymanski und Reinhold Dellmann rund um Neuruppin, Kyritz und Pritzwalk den Rotstift angesetzt. Wo bisher alle zwei Stunden ein Zug fuhr, verkehrte nun zweimal am Tag ein Bus – was auch die letzten Fahrgäste ins Auto trieb. Am 9. Dezember 2006 gab es die vorerst letzte endgültige Abschiedsfahrt zwischen Pritzwalk und Putlitz. Selbst Stehplätze waren an diesem Tag knapp – so viele Eisenbahnfreunde wollten zum Abschied noch einmal mitfahren. Die gesamte Chefetage der Prignitzer Eisenbahn war damals im Triebwagen. Nach Pritzwalk waren die Bahn-Chefs zuvor allerdings im Dienstwagen gefahren.
Ein neuer Bahnsteig fürs Pritzwalker Gymnasium
Heute rumpelt der Schienenbus mit seinen fünf Fahrgästen ohne Stopp durch den Haltepunkt Pritzwalk West. Ein halbes Jahr nach dem „endgültigen Aus“ hatten der Landkreis und die Prignitzer Eisenbahn 2007 den Bahnsteig neu gebaut, um die Strecke für Schüler des Pritzwalker Gymnasiums attraktiv zu machen. Inzwischen hatte sich ein Verein gegründet, der wieder Züge nach Putlitz fahren ließ.
Millionen für die Bundesstraße
Zwei Gleise führen aus Pritzwalk hinaus: Blank blitzende, auf denen zweimal pro Stunde der Prignitz-Express mit 120 Kilometern pro Stunde entlangsaust – und parallel daneben das Gleis nach Putlitz: rostig mit viel Grünzeug zwischen den Schienen. Bald biegt dieses Gleis von der Hauptstrecke ab in dichtes Buschwerk. Zweige schrammen am genieteten Blech des Uerdingers entlang. Durch einen grünen Tunnel und unter der neuen Betonbrücke hindurch. Für Millionen wurde hier die Bundesstraße 189 autobahnähnlich ausgebaut, während darunter die Gleise verrotten.
Kuhbier – ein Bahnhof im Western-Stil
Der Triebwagen erreicht den schönsten und eigenwilligsten Bahnhof entlang der Strecke: Kuhbier: vor einem Bahnübergang in einer Kurve gelegen mit weinrotem Wartehäuschen im Western-Stil.
High Noon. Einsteigen will heute trotzdem nur einer. Dafür stehen zwei Fotografen am Bahnübergang und halten das idyllische Bild für die Nachwelt fest. 50er-Jahre-Technik west vor 50er-Jahre-Kulisse ost. Maler und Fotografen – die Propheten des Untergangs an jeder Bahnstrecke. Wenn alte Bahnhöfe plötzlich noch einmal renoviert oder neue Gleise eingebaut werden wie damals zwischen Neuruppin und Herzberg, dann ist das für manche Eisenbahner ein untrügliches Zeichen, dass die Strecke bald aufgegeben wird. Auch wenn plötzlich in jeder Kurve ein Fotograf steht, ist das kein gutes Omen für den Fortbestand einer Bahnlinie. Viele möchten rasch noch einen Anblick festhalten, den es bald nicht mehr gibt.
Auch der Uerdinger Schienenbus hat ein Verfallsdatum
Auch der Uerdinger Schienenbus hat ein Verfallsdatum: 10. 10. 2016 steht auf dem Seitenblech – das Datum für den Fristablauf. Dann ist die nächste große Hauptuntersuchung fällig: Eine Art Tüv mit Generalüberholung. Ob die Hanseatische Eisenbahngesellschaft noch einmal in den 60 Jahre alten Oldtimer investieren wird?
„Er wird nicht verschrottet“, versichert der „Hans“-Geschäftsführer Tino Hahn. Auch für den Mann im Führerstand gibt es weiter Arbeit. An Lokführern herrscht derzeit akuter Mangel.
Diesmal wird die Strecke von Pritzwalk abgetrennt
Die vor 120 Jahren eröffnete Eisenbahnstrecke aber werde nun „formell abgebunden“, sagt Tino Hahn. Das Gleis gehört seit 1990 dem Landkreis Prignitz. Weil in Pritzwalk ein Bahnübergang neu gebaut werden muss, wird bei Pritzwalk West wohl bald ein Prellbock die Verbindung unterbrechen. Fahrten mit Museumszügen oder Draisinen wären dann nur noch zwischen Putlitz und Kuhbier möglich. Trotzdem kann auch Tino Hahn sich vorstellen, dass irgendwann auch wieder Züge zwischen Putlitz und Pritzwalk fahren. „In 20 Jahren wird man noch froh sein über die Gleise“, sagt er. Vorerst hat der Landkreis Prignitz mit seiner europaweiten Ausschreibung des öffentlichen Nahverkehrs aber dafür gesorgt, dass nun Busse fahren statt Züge. Die nehmen zum Beispiel keine Fahrräder mehr mit.
Niemand steigt ein in Groß Langerwisch, Jakobsdorf und Laaske
Es rumpelt, die Blattfedern quietschen, das Kunstleder der Sitze knarzt. Groß Langerwisch, Jakobsdorf, Laaske. Der Schienenbus fährt ohne Halt durch. Niemand will heute ein- oder aussteigen. Dabei liegen die Haltepunkte mitten im Dorf. Doch der private Pkw ist jederzeit fahrbereit und nicht nur fünfmal am Tag pro Richtung. Schon heute fahren Omnibusse parallel zur Bahn.
Noch einmal geht es durch dichten Wald. Die Bäume rechts und links streifen die Fenster. Dann ist Putlitz erreicht. Endstation nach 27 Minuten für 17 Kilometer.
VBB- Alles ist erreichbar?
„VBB – Alles ist erreichbar“ verkündet ein Aufkleber, der nicht so recht auf das alte Blech passen will. Für viele Orte in Brandenburg mag der Slogan des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg wie Hohn klingen. Es gibt Dörfer, die in die nächste Stadt 90 Minuten Busfahrt erfordern auf einer Strecke, für die man mit dem Auto zehn Minuten braucht. Wenn überhaupt noch ein Bus fährt, dann auf Umwegen und mit zweimal Umsteigen.
Ein kurzer Pfiff. Der rote Brummer setzt sich in Bewegung, zurück nach Pritzwalk. Die Sitzbänke bleiben heute Mittag fast alle leer.
Im Juni 1896 eröffnet
Putlitz war im 19. Jahrhundert das Zentrum der Region. Ortsansässige Adelige setzten sich für einen Eisenbahnanschluss ein. Aber erst 1895 gab es die Genehmigung, und der Kreis baute auf Anregung des Barons eine Kleinbahn von Pritzwalk nach Putlitz – auf eigene Kosten. Am 4. Juni 1896 wurde die 17 Kilometer lange Strecke eröffnet. Betreiber war die damalige Prignitzer Eisenbahngesellschaft.
Bis 1947 fuhr die Eisenbahn von Pritzwalk über Putlitz bis Parchim durch. Außerdem konnte man in Putlitz in eine Kleinbahn nach Berge umsteigen.
Im September 1996 übernahm die neu gegründete Prignitzer Eisenbahn (PEG) den Verkehr auf der Strecke, zunächst im Auftrag der DB, 1998 auf Bestellung des Landes. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2006 bestellte das Land Brandenburg den Verkehr nach Putlitz ab. Im Sommer 2007 wurde er wieder aufgenommen, nun im Auftrag der Verkehrsgesellschaft Prignitz und des Putlitz-Pritzwalker Eisenbahnfördervereins, finanziert aus Mitteln für Schüler- und für Busverkehr. Im Dezember 2012 drohte erneut das Aus. Eine finanzielle Beteiligung der Stadt Putlitz rettet vorerst die Bahn.
Von Christian Schmettow
MAZ