„Lüneburger Bahn“: Abriss vor 70 Jahren
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Heute Sitz der Grundschule: der Bahnhof in Lenzen 1907
© Quelle: Kerstin Beck (Archiv)
Lenzen. Vor genau 70 Jahren ereignete sich in der südwestlichen Prignitz etwas, das der wirtschaftlich bis dahin gut gehenden Region Lenzen einen regelrechten Todesstoß versetzte: Die bis dahin noch existierende „Lüneburger Bahn“ wurde eingestellt und die Bahnanlagen restlos abgebaut.
In einem in Schwerin am 24. September 1947 aufgegebenen Bahndiensttelegramm heißt es: Auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) ist am 25.9.1947 die Strecke Wittenberge – Dömitz einschließlich aller Gleise und Weichen der an dieser Strecke liegenden Bahnhöfe abzubauen ... das Gleis ist vollständig in Einzelteile, Schienen, Schwellen und Kleineisen zu zerlegen und nach Oberbauformen einzeln zu verladen. Die Weichen sind mit allem Zubehör ... ordnungsmäßig gereinigt zu stapeln und zu lagern.“
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Abgerissen: die legendäre Lenzener Bahnhofstoilette.
© Quelle: Kerstin Beck
„Das geschah auf Befehl der Russen“, erzählt Archäologe Christian Etzel. Der ehrenamtlich tätige Bodendenkmalpfleger und Eisenbahnexperte hat jahrelang über die Geschichte dieser Bahn geforscht, Fotos zusammengetragen und auf der Strecke nach Rudimenten der Anlage gesucht. „Die Deutsche Reichsbahn hätte das von sich aus niemals gemacht, denn die Strecke war zur Entlastung der auf ein Gleis zurückgebauten Strecke Wittenberge – Ludwigslust unentbehrlich“, erläutert Etzel diesen Befehl. „Mitte September 1947 war es sogar noch geplant gewesen, einen nächtlich durchgehenden Betrieb auf der Lüneburger Bahn einzuführen, und dazu war auch noch ein deutlicher Personalzuwachs mit einer Verdoppelung der bisherigen Personalstärke vorgesehen. Der Befehl zum Abbau von der SMAD muss für alle Menschen hier wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen sein!“
Besagte Bahnstrecke, bekannt als die „Wittenberge-Buchholzer Zweigbahn“, wurde 1873 von der Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft (BHE), welche 1870 die Konzession für eine Verbindung von Wittenberge an der Bahnstrecke Berlin–Hamburg über Dömitz und Dannenberg nach Lüneburg erhalten hatte, geplant und gebaut.
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Heute ein Parkplatz: der Nordbahnhof Wittenberge mit dem Gleis der Lüneburger Bahn 1993.
© Quelle: Kerstin Beck (Archiv)
Die Bahnkilometrierung setzte in Berlin am Lehrter Bahnhof mit 0 ein. Bis Wittenberge waren 126,62 km erreicht, bis Cumlosen 134,12 km, bis Lanz 140,30, bis Lenzen 149,60, bis Polz 158,35 und bis Dömitz 164, 732 km. Als Messpunkt diente die Lage der Fahrkartenausgabe des jeweiligen Bahnhofes.
In der Prignitz bedeutete der Bahnanschluss insbesondere für die Region Lenzen eine immense Förderung des wirtschaftlichen Aufschwunges. Von hier aus wurden landwirtschaftliche Erzeugnisse vom Schwein bis hin zum Spargel in die Hauptstadt verschickt. Benutzt wurde die Bahn natürlich auch von Handwerkern und Berufspendlern bis hin zu Gymnasialschülern. Auch die jenseits der Elbe liegende Region Gartow mit den Höhbeckdörfern wurde damit wirtschaftlich an Lenzen gebunden, was wiederum der Lenzener Fähre zugute kam. Und ein prominenter „Tourist“ befuhr im Mai 1898 die Lüneburger Bahn bis nach Lanz und wieder zurück nach Lenzen, wo er sich dann mit der Fähre ins Hannoversche übersetzen ließ, um bis nach Gartow zu reisen: Karl May.
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2005 noch im Boden: Der Archäologe Christian Etzel legt Schwellen frei.
© Quelle: Kerstin Beck
Etliche Familien hatten an der Bahnstrecke ihr redliches Auskommen. An den 15 besetzten Bahnübergängen zwischen Wittenberge bis Lenzen gab es 15 Schrankenwärter, etwa die in Lindenberg, Lanz und Wustrow. Zusätzlich war in Gandow eine mit einer Person besetzte Blockstelle errichtet worden. Der Bahnhof Cumlosen war mit drei Beamten, der Bahnhof Lanz mit sechs und der Lenzener mit elf Beamten besetzt. In Lanz und in Lenzen gab es gut gehende Bahnhofswirtschaften - die letztere war für ihr gutes „Bockbier“ bekannt.
Bis einschließlich Lenzen standen immerhin 36 Bahnbeamte in Lohn und Brot. Im mecklenburgischen Polz waren zudem drei Eisenbahner angestellt. Bis einschließlich Dömitz kann man von insgesamt 50 Eisenbahnern ausgehen, die mit der Schließung der Strecke aber nicht arbeitslos wurden: Sie wurden in benachbarte Dienststellen umgesetzt.
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Abfahrtssignal am Bahnhof Lanz.
© Quelle: Kerstin Beck (Archiv)
„Mit der Bahn war die Region erschlossen worden und sie war für die Leute vor Ort von enormer Bedeutung – sowohl für den Güter- als auch für den Personenverkehr. Für die Eisenbahner war sie ein wichtiger Arbeitsplatz und für die Leute eine Lebensader. Ihre Schließung war insbesondere für Lenzen ein harter wirtschaftlicher Einschnitt!“ meint Christian Etzel, der als Vorgeschichtler noch eine andere Sicht hat: „Was mich bei der Strecke fasziniert, ist, dass hier eine Hauptbahn im Boden ziemlich gut dokumentiert ist. So gibt es Fundamente der gesamten Schrankenwärterposten, ein Ensemble der Blockstelle Gandow mit Keller, Dienstbrunnen und Standort des Läutewerkes. In Lenzen gibt es noch die gesamten Hochbauten, allerdings fehlen Bahnhofstoilette und Stellwerk Lenzen-West, aber Letzteres ist mit Fotos und Bauplan dokumentiert“.
Auch über die Toilette gibt es eine schöne Anekdote – ein amüsantes Gedicht, über „Frau Amtmann Fett ut Unbesandten“, die den Zug nach Berlin verpasste und die Nacht auf „dat Klo“ verbrachte. Aber im Gegensatz zu der Örtlichkeit, die inzwischen leider auch schon verschwunden ist, ist die Geschichte weitgehend erfunden.
Von Kerstin Beck
MAZ