Der Pfarrer, die Pornos und die Plausibilität: die Netflix-Miniserie „Inside Man“
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Kinderpornos auf dem Stick: Lehrerin Janice (Dolly Wells), kurz bevor sie in Pfarrer Harrys (David Tennant) Keller landet, weil dem Kirchenmann nicht einfällt, dass er das Problem auch verbal aus der Welt schaffen könnte. Szene aus der Miniserie „Inside Man“, die bei Netflix zu sehen ist.
© Quelle: Netflix
Manchmal passieren Leuten, die Filme oder Serien machen, eklatante Fehler. So zum Beispiel jüngst dem international erfolgreichen Wolfsburger Regisseur Edward Berger („The Terror“, „Patrick Melrose“, „Your Honor“). Der verlegte das Sterben des Soldaten Paul Bäumer in seiner Remarque-Verfilmung „Im Westen nichts Neues“ auf ein Himmelfahrtskommando von Generalissismus Paul Hindenburg am letzten Kriegstag. Ein paar Minuten vor Eintreten der bedingungslosen Kapitulation gelingt dem Helden noch ein Minimassaker an den gegnerischen Kräften, bevor ihn am Ende aller Raserei von hinten ein französisches Bajonett durchbohrt. Ungläubiger Blick. Tod. Abspann.
Das erschütternd beiläufige Ende von Remarques Jahrhundertbuch, in dem der Protagonist an einem Tag fällt, an dem so wenig geschah, dass der Heeresbericht vermerkte, es sei „im Westen nichts Neues“ zu vermelden, wird zugunsten eines turbulenten Actionfinales an dem vielleicht bedeutsamsten Tag des Ersten Weltkriegs geopfert. Der Titel des Films wäre damit hinfällig. Überhaupt stößt einem die Überdosis „letztes Gefecht“ auf.
Drama von Pastor und Lehrerin wäre an jeder Station umkehrbar gewesen
Was das mit „Inside Man“ zu tun hat, der neuen Serie von „Sherlock“-Macher Steven Moffat? Nichts – erst mal. Außer, dass dem Autor der von Paul McGuigan („Lucky # Slevin“) inszenierten Geschichte auch ein elementarer Fehler unterläuft. Moffat erschafft ein Familiendrama, das eben nicht mit der Zwangsläufigkeit abläuft, die eine gute Tragödie braucht.
Der Leidensweg des englischen Landpfarrers Harry Watling („Dr. Who“-Star David Tennant), der in „Inside Man“ erzählt wird, wäre an nahezu jeder Station umkehrbar gewesen. Ein paar Sätze der Ehrlichkeit zwischen vernünftigen Menschen – sprich: ihm und Janice Fife (Moffats „Dracula“-Star Dolly Wells), der Mathe-Nachhilfelehrerin seines Sohnes Ben (Louis Oliver) – und seine Familie wäre nicht dem Untergang geweiht worden, und sogar für den eigentlich Schuldigen an der Misere wäre eine Lösung gefunden worden.
Dann wäre diese Miniserie nie entstanden, dieses vortreffliche Ensemble hätte nie zusammengespielt. Seufz! Man sagt das weder gerne noch oft: Es wäre besser gewesen.
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In „Inside Man“ steckt der schüchterne neue Küster Edgar (Mark Quartley) seinem Dienstherrn Harry einen Stick voller Pornos zu, weil den sonst seine prüde und gottesfürchtige Mutter konfiszieren und obendrein einen Antiporno-Affentanz aufführen würde. Versehentlich öffnet Janice eine der Dateien, entdeckt, dass es sich um Kinderpornos handelt und hält allen Ernstes ihren völlig unverdächtigen Nachhilfeschüler für den Besitzer.
Der Zuschauer denkt sich nur: „Führ ein Gespräch, Harry!“
Nach an keiner Stelle nachvollziehbarem Zeter und Mordio zwischen ihr und dem Pfaffen landet Janice verletzt im Keller, wo sie denn auch umgehend damit rechnet, ermordet zu werden. Und Harry, der die Absicht einer letalen Bluttat vehement leugnet, scheinen auch keine rechten Alternativen einzufallen, zumal der Lauch Edgar abstreitet, dass der Stick ihm gehört. Harry hat das Gefühl, in der tiefsten und schwärzesten Tinte seines Lebens zu sitzen, wohingegen der Zuschauer sich nur denkt: „Führ ein Gespräch, Harry! Reden ist Gold, Harry! Alles wird gut, Harry! Harry!!!!!“
Die Rettung für Janice könnte außer in einem seines gesunden Menschenverstands sich erinnernden Harry in der Journalistin Beth (Lydia West, „Years & Years“) liegen, der Janice in der Straßenbahn beigestanden hatte, als sie – in der ersten und intensivsten Szene des Vierteilers – von einem jungen Mann sexuell belästigt wurde.
Der Titel „Inside Man“ geht auf einen Todeszellen-Sherlock zurück
Beth bekommt, als sie gerade in den USA ein Interview mit einem zum Tode verurteilten Verbrecher führt, ein verschwommenes Handyfoto von Janice, woraus sie schließt, es könne gerade sehr schlecht um ihre Helferin bestellt sein. Der inhaftierte Jefferson Grieff (Stanley Tucci), dem die Serie ihren Titel „Inside Man“ verdankt und der nie ohne seinen massigen Sidekick Dillon (Atkins Estimond) auftritt, steht auf wenig plausible Hannibal-Lecter-Spielchen – Leistung gegen Leistung - und ist zudem ein Distanz-Sherlock, ein Deduktionsmeister, der aus der Zelle heraus in die Welt wirkt, in der er zahllose Gefälligkeiten einfordern kann. Die ziemlich abstrus konstruierte Handlung ist die Chance für Janice, dem zunehmend verzweifelnden Pfaffen und seiner deutlich gewaltbereiteren Ehefrau (Lyndsey Marshal) von der Klinge zu springen.
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Die Eskalation hier ist jedenfalls ähnlich unplausibel wie die Raserei Paul Bäumers in den letzten zehn Minuten von „Im Westen nichts Neues“. Nur dauert sie wesentlich länger, um nicht zu sagen, unerträglich lange. Spätestens als Harry das Kreuz Edgars explizit auf sich nehmen will, weil er, wie er seiner Frau erläutert, ja der Pfarrer sei, als solcher nicht anders könne, und es ja sowieso so sei, dass die Leute in Pfarrern immer Pädophile sähen, möchte man die Serie rückgängig machen. Und Moffat auf einen Grundkurs Drehbuch schicken.
„Inside Man“, Miniserie, vier Episoden, von Steven Moffat, Regie: Paul McGuigan, mit David Tennant, Stanley Tucci, Dolly Wells, Lydia West, Kate Dickie (streambar bei Netflix)