ICE-Unglück von Eschede: die Chronologie einer Tragödie
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Das Wrack des am 3.6.1998 in Eschede bei Celle verunglückten ICE 884 liegt direkt vor einem Einfamilienhaus an der Bahnlinie. Im Vordergrund sind Rettungsfahrzeuge der rund 300 Helfer zu sehen.
© Quelle: picture-alliance / dpa
Es ist das schlimmste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik. Vor 25 Jahren, am 3. Juni 1998, rasen die Waggons des ICE 884 mit 200 Stundenkilometern gegen eine Betonbrücke nahe dem niedersächsischen Ort Eschede bei Celle. 101 Menschen sterben, darunter zwölf Kinder. Grund für den tragischen Zugunfall ist der Bruch eines Radreifens. Mitarbeitende der Deutschen Bahn müssen sich für das Zugunglück Jahre später vor Gericht verantworten. Das Protokoll einer Tragödie.
3. Juni 1998, 5.47 Uhr, fünf Stunden und 19 Minuten bis zur Katastrophe
Der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ fährt aus dem Hauptbahnhof in München in Richtung Hamburg los. Gegen 12 Uhr soll er in der Hansestadt eintreffen. Es ist der Mittwoch nach dem Pfingstwochenende 1998.
3. Juni 1998, 9.03 Uhr, eine Stunde und 56 Minuten bis zur Katastrophe
Bei dem Halt in Fulda wechselt das Zugpersonal. Zwei Männer und eine Frau steigen zu. Das ursprüngliche Team fährt nach München zurück.
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Der Krisen-Radar
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3. Juni 1998, 10.33 Uhr, 26 Minuten bis zur Katastrophe
Eine knappe halbe Stunde vor dem Unfall hält der ICE in Hannover. Von dort aus fährt der Zug weiter in Richtung Hamburg-Altona. An Bord befinden sich um die 300 Fahrgäste. Darunter auch einige Kinder.
Kurz vor Eschede führt ein gebrochener Radreifen zur Tragödie
3. Juni 1998, 10.57, zwei Minuten bis zur Katastrophe
Mit rund 200 Stundenkilometern rast der Intercity-Express durch die Lüneburger Heide. Bei Streckenkilometer 55,1, kurz vor dem Ort Eschede, beginnt die Tragödie: Am ersten Waggon zerreißt ein mürbe gewordener Radreifen. Der Reifen löst sich explosionsartig, verkeilt sich im Radkasten und bohrt sich durch den Boden eines Abteils.
Ein junger Mann bemerkt, dass etwas nicht stimmt, und meldet sich bei dem Schaffner. Die Gefahr ist beiden nicht bewusst, niemand zieht die Notbremse. Während die beiden Männer auf dem Weg in Wagen eins sind, fährt der Zug weiter. Überlebende des Unglücks berichten später gegenüber dem „Stern“, dass sie zunächst ein mahlendes Geräusch gehört und ein Ruckeln wahrgenommen haben. Dann spüren sie einen heftigen Schlag und hören ein lautes metallisches Krachen.
Aufgrund des zerrissenen Radreifens wird zunächst eine Weiche verstellt, wodurch der erste Wagen aus der Schienen gehoben wird und gegen eine zweite Weiche schlägt. Dadurch entgleisen weitere Waggons.
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Der Tag, an dem Eschede seine Leichtigkeit verlor
Der Name ist untrennbar mit dem schwersten Eisenbahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik verbunden. Doch nach 25 Jahren sind es viele in Eschede leid, darauf reduziert zu werden. Über einen Ort, der nicht mehr stellvertretend für alle trauern will.
3. Juni 1998, 10.59 Uhr, Zeitpunkt der Katastrophe
Kurz vor der Rebberlaher Brücke bei Eschede springen die Waggons durch die verstellten Weichen von den Schienen. Dabei knallt der entgleiste Wagen drei gegen den Betonpfeiler der Brücke und bringt diese zum Einsturz. Wagen eins bis vier schaffen es noch unter der Brücke durch, letzterer stürzt eine Böschung hinab. Dann kracht die 200 Tonnen schwere Betonkonstruktion auf den hinteren Teil von Waggon fünf und zerreißt das Abteil. Die restlichen Waggons rasen in die Trümmer und werden wie ein Zollstock ineinandergeschoben. Der Aufprall entspricht einem Sturz aus 160 Metern Höhe.
Nur der vordere Triebkopf des ICE sowie die ersten beiden Waggons bleiben nahezu unbeschädigt. Sie kommen nach einer Zwangsbremsung zwei Kilometer hinter der Unfallstelle zum Stehen. Der Lokführer gibt später an, nur einen leichten Ruck verspürt zu haben. Erst über Funk erfährt er, was passiert ist. „Du bist hier allein vorbeigefahren. Du bist entgleist“, sagt ihm der Fahrdienstleiter.
25 Jahre Zugunglück in Eschede: Was war, was ist und was werden soll
Es ist noch immer das größte Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik: Das Zugunglück von Eschede. 101 Menschen sterben. Was erinnert noch heute daran?
© Quelle: Sebastian May
Nach dem Zugunglück leisten Anwohnerinnen und Anwohner Erste Hilfe
3. Juni 1998, 11.03 Uhr
Nach den ersten Notrufen gibt die Polizei die Meldung eines Zugunglücks weiter. Sirenen heulen durch Eschede. Die ersten vor Ort sind Anwohnerinnen und Anwohner, die durch den lauten Knall aufgeschreckt wurden. Sie leisten Erste Hilfe, bringen Decken und führen Leichtverletzte von der Unfallstelle weg.
3. Juni 1998, 11.07 Uhr
Die Feuerwehr Eschede trifft ein. Ihr Einsatzleiter fordert weitere Feuerwehren aus der Umgebung, Rettungshubschrauber und die Bundeswehr als Verstärkung an. Die Rettungsleitstelle meldet einen Massenanfall von Verletzten. In Eschede herrscht nun Großalarm.
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Der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ entgleist am 3. Juni 1998 auf der Bahnstrecke Hannover–Hamburg nahe Eschede. 101 Menschen sterben, 108 werden schwer verletzt.
© Quelle: Rainer Dröse
3. Juni 1998, 11.25 Uhr
Die Zahl der Verletzten steigt immer weiter. Um sicherzustellen, dass die Schwerverletzten als Erstes abtransportiert werden, verhängt die Einsatzleitung einen Transportstopp für die leichter Verletzten.
3. Juni 1998, 11.30 Uhr
Erste Radiostationen unterbrechen ihr Programm, um über die Katastrophe zu berichten. Währenddessen versuchen die Rettungskräfte, die eingeschlossenen Fahrgäste zu erreichen. Schwierigkeiten bereiten dabei die riesigen Trümmermengen, durch die sie sich zunächst arbeiten müssen. Medizinisch ausgebildete Helferinnen und Helfer aus der Umgebung eilen herbei.
Fast 2000 Menschen sind am Rettungseinsatz beteiligt
3. Juni 1998, 12.05 Uhr
Der erste Verletzte wird mit einem Rettungshubschrauber abtransportiert. Weitere Einsatzkräfte sind unterwegs. In den nächsten zwei Tagen und Nächten werden fast 2000 Retterinnen und Retter im Einsatz sein. Die traumatischen Bilder der Toten und Verletzten, der Menschen, die verzweifelt nach ihren Angehörigen suchen, der Trümmerteile von den zerschellten Waggons und der eingestürzten Brücke werden sich tief in ihr Gedächtnis einbrennen.
3. Juni 1998, 12.30 Uhr
Angesichts des immer deutlicher werdenden Ausmaßes des Zugunglücks ruft der Oberkreisdirektor des Landkreises Celle vor Ort den Katastrophenfall aus.
3. Juni 1998, 13.45 Uhr
Knapp eine Stunde und 45 Minuten nach dem Unfall wird der letzte Schwerverletzte mit einem Rettungshubschrauber abtransportiert. Die Leitstelle meldet, dass keine Verletzten mehr vor Ort sind. Ab jetzt bergen die Einsatzkräfte nur noch die Todesopfer.
3. Juni 1998, 15.15 Uhr
Der Katastrophenalarm wird aufgehoben. Ein Großteil der Feuerwehren und Rettungsdienste aus den umliegenden Kreisen ziehen ab.
101 Menschen sterben bei dem ICE-Unfall
3. Juni, 15.30 Uhr
Immer mehr Tote werden geborgen. Hilfsdienste rufen in der Bevölkerung zu Blutspenden auf, um die Verletzten in den Krankenhäusern zu versorgen. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog spricht den Angehörigen sein Beileid aus.
3. Juni 1998, 16.10 Uhr
Die Untersuchungen zur Ursache des Unglücks beginnen. Später werden sich Mitarbeiter der Deutschen Bahn vor Gericht verantworten müssen.
Beschädigte Betonschwellen führten zu tödlichem Zugunglück in Garmisch-Partenkirchen
Fünf Menschen starben im Juni 2022 beim Zugunglück von Garmisch-Partenkirchen, 78 wurden verletzt.
© Quelle: dpa
3. Juni 1998, 18 Uhr
Internationale Medien werden auf das Zugunglück aufmerksam. Auf einer ersten Pressekonferenz wird über die Katastrophe und den Stand der Rettungsarbeiten informiert. Es wird von mindestens 100 Toten ausgegangen.
3. Juni 1998, 18.23 Uhr
Zwei Schwerlastkräne erreichen den Unfallort. Der Rettungseinsatz geht bis in die frühen Morgenstunden weiter.
4. Juni 1998, 6.42 Uhr
Erst am nächsten Morgen ist der Rettungseinsatz beendet. Die Bergungsarbeiten werden noch die gesamte Woche andauern. Vor Ort wurden 96 Todesopfer geborgen. Fünf Menschen erliegen später ihren schweren Verletzungen. Das letzte Todesopfer stirbt sechs Wochen nach dem Unfall. Unter den Verstorbenen sind zwölf Kinder. 108 Menschen wurden verletzt, 70 davon schwer.
Roman Herzog spricht den Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus
4. Juni 1998
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder, damals Niedersachsens Ministerpräsident, besuchen die Unfallstelle. Am Abend findet ein ökumenischer Gottesdienst statt. Erste Hinweise deuten auf den gebrochenen Radreifen als Unfallursache hin.
Freitag, 5. Juni 1998
Zwei Tage nach der Katastrophe dauern die Bergungsarbeiten noch immer an. Auch die Zahl der Todesopfer steigt weiter. Die Polizei beschlagnahmt das Wrack des verunglückten Zuges.
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Hauptstadt-Radar
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Dienstag, 9. Juni 1998
Um 17.35 Uhr passiert ein Interregio als erster Zug die wieder freigegebene Unfallstelle.
Sonntag, 21. Juni 1998
In Celle findet die zentrale Trauerfeier für die Opfer der Katastrophe von Eschede statt. Bundespräsident Herzog spricht den Angehörigen erneut sein Beileid aus und dankt den Helferinnen und Helfern.
Angehörige kritisieren die Deutsche Bahn im Gerichtsverfahren
13. Juni 2002
Gut vier Jahre nach der ICE‑Katastrophe eröffnet das Landgericht Lüneburg das Hauptverfahren. Im Zentrum des Verfahrens steht die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der Radreifen brach. Angeklagt werden zwei Ingenieure des ehemaligen Bundesbahn-Zentralamtes in Minden und ein Ingenieur des Radreifenherstellers Vereinigte Schmiedewerke in Bochum. Ihnen wird vorgeworfen, die damals neuen Räder des ICE nicht ausreichend überprüft zu haben. Insgesamt 37 Hinterbliebene werden als Nebenkläger zugelassen. Laut einem Sprecher der Angehörigen sehen sie die Deutsche Bahn als Unternehmen in der Verantwortung.
Am 28. April 2003
Der Richter des Lüneburger Landgerichts schlägt vor, gegen Zahlung einer Geldbuße von jeweils 10.000 Euro den Prozess einzustellen. Die drei Angeklagten würde keine schwere Schuld an dem Unglück treffen. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung stimmen der Einstellung zu.
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Gedenkstätte für die Opfer des ICE-Unglücks von Eschede im Landkreis Celle.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
8. Mai 2003
Das Verfahren gegen drei Angeklagten wird nach 53 Verhandlungstagen eingestellt. Die Hinterbliebenen sind schwer enttäuscht von dem Ergebnis und kündigen eine Beschwerde bei Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an.
4. Juni 2003
Das Karlsruher Gericht weist die Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens durch die Hinterbliebenen zurück. Damit endet die rechtliche Aufarbeitung der Tragödie von Eschede endgültig. Eine Gedenktafel in dem Ort erinnert an die Todesopfer.