Sackhüpfen auf Drogenpilzen: Die Serie „Nine Perfect Strangers“ bei Amazon Prime
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„Ihr seid alle hierhergekommen, um zu sterben. Und ich werde euch zurückholen“: Masha (Nicole Kidman) leitet in der Amazon-Prime-Video-Serie „Nine Perfect Strangers“ das Tranquillum House.
© Quelle: Hulu
Wie das Auto die gewundene Straße entlangkriecht, erinnert uns der Auftakt von „Nine Perfect Strangers“ an Stanley Kubricks Verfilmung von Stephen Kings „Shining“. Hier wie da war eine Familie von Dreien unterwegs. In „Shining“ war es eine Reise in den Wahnsinn, hier soll es für alle bergauf gehen. Der Vater psalmodiert am Steuer über den bevorstehenden Aufenthalt in einem besonderen Wellnessressort, die Mutter schaut diskret genervt aus dem Seitenfenster, als wäre sie gern woanders. Und die erwachsene Tochter – ihr 21. Geburtstag steht direkt bevor – hört gar nicht erst zu – sie hat Bluetooth-Knöpfe im Ohr, eine praktikable Flucht vor elterlichen Spannungen. Ein Trio auf Distanz, das wieder zueinander finden will. Letzte Chance ist womöglich das Tranquillum House.
Napoleon (Michael Shannon), Heather (Asher Keddie) und Zoe Marconi (Grace Van Patten) sind drei der „neun Fremden“ – so heißt Liane Moriartys Romanvorlage im Deutschen – die Heilung in der Zuflucht dieses traumhaft schönen Sanatoriums inmitten einer paradiesischen Landschaft suchen. Der Originaltitel (auch der Serie) betont die Tatsache, dass die Gäste von der Leiterin, Masha Dmitrichenko (Nicole Kidman), durch – wie sich bald herausstellt – sorgfältige Recherchen ausgewählt wurden.
Auf Kidmans Zauberberg erwartet man zunächst Tödliches
Der Aufenthalt ist eine Art Experiment. In Mashas Menschenversuch befinden sich noch die Influencerin Jessica Chandler (Samara Weaving) und ihr Mann, der Lotto-Multimillionär Ben (Melvin Gregg), der Ex-Profi-Footballer Tony (Bobby Cannavale) und der undurchsichtige Lars (Luke Evans), die vierfache Mutter Carmel (Regina Hall) und die Schriftstellerin Frances (Melissa McCarthy), die ihren BMW kurz vor der Ankunft noch einmal kurz anhält, um lauthals die „fucking world“ zu verfluchen.
Das Traumteam Nicole Kidman (Hauptdarstellerin/Produzentin), David E. Kelley (Produzent) und Liane Moriarty (Autorin) arbeitete schon beim exquisiten, zweistaffeligen Thriller-Drama-Mix „Big Little Lies“ zusammen, Kelley und Kidman danach noch in der Thrillerserie „The Undoing“. Auf Mashas kalifornischem Zauberberg erwartet man deshalb erstmal tödliche Vorgänge wie in Agatha Christies klaustrophobischem Dezimierungskrimi „Und dann gabs keines mehr“.
Und einige leise Andeutungen in Richtung Suspense gibt es denn auch. Zwar dezimiert kein geheimnisvoller Mörder hier reihum die nach Veränderung Strebenden. Aber die Ansprache der engelsgleichen Masha hat es in sich: „Ihr seid alle hierhergekommen, um zu sterben. Und ich werde euch zurückholen.“ So wie Masha selbst einst zurückgeholt wurde, nachdem sie, wie sie erzählt, ein Unbekannter in einer Parkgarage erschossen hatte. „Ihr werdet nicht mehr die Person sein, als die ihr gekommen seid“, sagt sie. So wie sie selbst nach dem Beinahetod von einer rücksichtslosen Geschäftsfrau zur Heilerin wurde.
Es passiert erst mal wenig, dennoch unterhält man sich bestens
Die Überwachungskameras allerorten lassen ebenfalls Übles ahnen, durch ihr verlässliches Auftauchen bei Patientenkrisen wirkt Masha anfangs spinnenhaft. Unheimliche Nachrichten, die anonym auf ihrem Smartphone erscheinen, und sie extrem beunruhigen, kommen hinzu. Aber ihre sanftmütigen Sidekicks Yao (Manny Jacinto) und Delilah (Tiffany Boone), die therapeutisches Mitspracherecht haben, würden, so möchte man meinen, niemals einer Mordbraut dienen.
Lange, lange Zeit (im Prinzip fünf der sechs zur Sichtung überlassenen Folgen – insgesamt hat die Serie acht) passiert nicht viel. Man hat keine Ahnung, worauf diese Geschichte hinauslaufen möchte, wie Masha mit ihrer Methode die Welt verändern könnte. Unterhalten wird man freilich trotzdem bestens.
Die Gruppe von Fremden wächst zusammen
Nicht nur via der amüsanten, klassischen Blablapoesie der Heilung, der weichen Flüsterworte der holistischen Versprechen, die sich wie Salbe auf die neun wunden Seelen legen, die zur Meditation ebenso antreten wie zum Sackhüpfen (auf welche Weise Weavings Jessica den Wettstreit gewinnt, ist verblüffend). Sondern auch davon, wie die perfekten Fremden von anfänglich misstrauischer Haltung zueinander und zu dem Drogenpilze einbeziehenden „Protokoll“ des Tranquillum House immer vertrauter miteinander werden, bis Zoe die Versammelten an ihrer Geburtstagsfeier zu „so etwas wie Familie“ adelt.
Über Flashbacks und Gespräche wachsen die Protagonisten auch der Zuschauerin und dem Zuschauer ans Herz – alle Neune. Man lernt sie kennen, ihre wunden Punkte, Selbstzweifel, Geheimnisse, Lebensbrüche, die alle irgendwie mit verlorener Liebe zu tun haben. Fassaden fallen – ein Weltklasseensemble lässt seine Figuren zur Ehrlichkeit vorstoßen und hält uns damit bestens bei Laune. Melissa McCarthy, viel zu lange die Ulknudel vom Dienst, ist so berührend wie in ihrer anderen Schriftstellerinnenrolle der Lee Israel in „Can You Ever Forgive Me?“ (2017), für die sie für den Oscar nominiert wurde.
In der sechsten Episode wartet ein heftiger Twist
Und dann kommen sie doch noch, die überraschenden Wendungen, die tieftragischen Abgründe und schließlich in der letzten Szene der sechsten Episode ein heftiger Twist, der uns einen zehnten Fremden offenbart. Man hat auf das Trio Kelley-Kidman-Moriarty vertraut, und wird belohnt.
Und würde sich nicht wundern, hätten diese drei auch noch einen Mörder in der Hinterhand, der in den beiden ausstehenden Episoden auf uns lauert.
„Nine Perfect Strangers“, acht Episoden, von David E. Kelley und John Henry Butterworth, Regie: Jonathan Levine, mit Nicole Kidman, Melissa McCarthy, Michael Shannon, Bobby Cannavale, Luke Evans, Grace Van Patten (ab 20. August bei Amazon Prime Video)