„Da hat sie gesagt, dass sie nicht mehr leben will“ – wie ein Mann seine Frau bei ihrem selbstbestimmten Tod begleitet hat
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„Wenn die Gesellschaft die Perspektive eines selbstbestimmten und sanften Suizids garantiert, können Betroffene in ihrem großen Leid viel entspannter in die Zukunft blicken“: Hans-Jürgen Kaiser hat den Freitod seiner Frau in der Schweiz begleitet und ein Buch darüber geschrieben.
© Quelle: Jonas Dengler
„Ich glaube, Sie essen gerade meine Nudeln.“ So heiter, wie die Geschichte von Hans-Jürgen und Anita begann, so tragisch ging sie zu Ende. Die Geschichte von der einen großen und erfüllenden Liebe, die Geschichte einer zerstörerischen Krankheit und die Geschichte einer Frau, die für sich entschieden hat, wann ihr Leben ein Ende haben soll. Bei diesem begleiteten Suizid stand Hans-Jürgen Kaiser bis zuletzt an ihrer Seite – und hat nun ein Buch darüber geschrieben.
„Wir waren wie eins“
1989 lernen sich Anita und Hans-Jürgen in einem Münchner Stehbistro kennen. Sie haben beide Nudeln bestellt – die Gäste können ihre fertigen Gerichte vom Tresen abholen. Anita hört die Klingel nicht, und Hans-Jürgen nimmt sich das Tablett. Sie sagt: „Ich glaube, Sie essen gerade meine Nudeln.“ Er ist sofort beeindruckt von ihrem taffen Auftritt. Es folgt eine Einladung zum Essen. Und die große Liebe.
Sie zieht von Rosenheim nach München. „Wir waren wie eins“, erzählt Hans-Jürgen Kaiser. Der 76-Jährige freut sich, wenn er über Anita spricht, seine Augen leuchten. „Wir haben getanzt, wir haben den Segelschein gemacht, sind ins Theater gegangen, haben gemeinsam gelesen. Es gab einen unglaublichen Gleichklang. Wir hatten die selbe Ästhetik. Uns waren die selben Leute sympathisch.“ Klar, man neige im Nachhinein etwas zur Romantisierung, sagt Kaiser. Aber diese totale Harmonie habe es wirklich gegeben. „Wir hatten Phasen – die waren wie im Paradies.“ Er war damals ledig, hatte mehrere Affären hinter sich. „Ich hatte schon gezweifelt, ob ich überhaupt beziehungsfähig bin.“ Sie war 34, er 43. „Da hat man seine Identität schon, das war sicher ein Vorteil.“
Die Schockdiagnose
Hans-Jürgen und Anita war das Leben wichtig. Das soziale, das kulturelle Leben. Die Kunst, die Musik. „Wir waren immer überein, dass ein rein biologisches Leben für uns keinen Sinn hätte.“ Aber es bleiben lange Zeit theoretische Gedanken, die sich die beiden machen über den Tod. Oder darüber, diesen im Extremfall mit einer eigenen Entscheidung herbeizuführen.
Die Schatten kommen nach sechs Jahren ins Leben von Anita und Hans-Jürgen. Fast jedes Wochenende sind die beiden damals unterwegs. Sie gehen tanzen, ziehen anschließend durch die Bars. Eines Abends merkt Anita, dass sie ihr Bein nicht mehr richtig nachziehen kann. „Das war beim Walzer, ich weiß das noch“, erinnert sich Hans-Jürgen Kaiser. Der Hausarzt schaltet sofort und überweist zum Neurologen. Einige Untersuchungen später steht die Diagnose fest. MS – Multiple Sklerose. Ein Schock.
„Da hat sie gesagt, dass sie nicht mehr leben will“
Zwar verläuft die Krankheit mehrere Jahre lang zunächst praktisch symptomfrei. Aber dann wird es nach und nach schlimmer. Anita kann immer schlechter laufen. Sie fällt oft hin. Erst braucht sie einen Gehstock, dann eine Krücke und eine Beinschiene. Mit 48 landet sie im Rollstuhl. Ihre Arbeit bei der Bayerischen Apothekerkammer muss sie aufgeben. Hans-Jürgen Kaiser, der zuvor eine Volkshochschule und das Evangelische Bildungswerk in Bayern geleitet hat, ist zunächst weiter als Bildungsreferent beim Deutschen Jugendherbergswerk tätig. Der Diplom-Sozialpädagoge unterstützt seine Partnerin so gut es. Acht, neun Jahre funktioniert das, ab 2009 nicht mehr. Hans-Jürgen Kaiser geht mit 63 in Rente und kümmert sich fortan rund um die Uhr. Inzwischen haben die beiden auch geheiratet, obwohl sie das eigentlich nicht wollten. Aber es macht vieles einfacher. Von medizinischen Auskünften bis hin zu anderen rechtlichen Angelegenheiten.
Der Mann spricht stabil und ruhig. Schildert den Alltag mit seiner MS-kranken Frau in all seinen Facetten. Anita wird Schritt für Schritt zum Pflegefall. Die starken Medikamente schlagen ihr sehr auf den Magen, sie muss häufig zur Toilette, dabei ist sie auf die Hilfe ihres Mannes angewiesen. Der geht ins Fitnessstudio, ist gut trainiert, und Anita wiegt bloß noch 48 Kilo. Trotzdem eine belastende Situation: „Sie wollte keine Beziehung zu mir als Pfleger“, erzählt Hans-Jürgen Kaiser. Und das Krankheitsbild verschlimmert sich weiter. 2014 kommt das Nackenbeugesyndrom hinzu. Extreme Schmerzen, die plötzlich den Körper durchfahren. Wie Blitzeinschläge. Oft mitten in der Nacht. „Manchmal dachte ich, sie wäre einen halben Meter über dem Bett“, erzählt Hans-Jürgen Kaiser, der mehrmals den Notarzt rufen muss. Zuletzt mindestens einmal jede Woche. „Sie lag nur noch auf der Couch und hatte Panik, dass es wieder losgeht“, erinnert er sich. Auch die Nerven der Blase entzünden sich, Anita bekommt einen Katheter. Und eine Ärztin deutet an, dass auch das bald nicht mehr reichen könnte, dass der Urin wohl bald abgepumpt werden muss. „Da hat sie gesagt, dass sie nicht mehr leben will.“
Ein halbes Jahr Vorbereitung
Hans-Jürgen Kaiser, der bis eben einen gefassten Eindruck gemacht hat, ringt plötzlich mit sich und kämpft mit den Tränen. Er hält den Atem an, er entschuldigt sich. „Sie sagte, dass das unumstößlich ist und sie bat mich, dass ich ihr helfe und sie begleite. Sie wollte diese Krankheit einfach nicht mehr haben.“ An diesem Tag, einem Freitag, weint Anita. Danach nicht mehr. Sie zeigt Coolness, Stärke, Willenskraft. Den Kontakt zu Dignitas, der Sterbehilfeorganisation in der Schweiz, hat sie da längst aufgenommen.
Es folgt ein aufwendiges halbes Jahr. Es müssen Unterlagen besorgt werden – und nicht immer können die beiden dabei mit offenen Karten spielen. Anita braucht einen Arztbericht. „Aber wenn man dem Neurologen sagt, wofür man den haben will, kann es sein, dass er das nicht macht“, erzählt Hans-Jürgen Kaiser. „Wir wussten ja nicht, was er für eine Einstellung hat.“ Anita erklärt, sie brauche den Bericht, damit sie ihre Lebensversicherung früher ausgezahlt bekommt – für einen behindertengerechten Hausumbau. Einem Zahnarzt sagt sie, die Röntgenaufnahme vom Kiefer sei für eine MS-Therapie in den USA nötig. Dabei ist das Bild zur Identitätsfeststellung beim assistierten Suizid erforderlich – für den Staatsanwalt. Nachdem bei Dignitas alle Unterlagen vorliegen, folgt ein dreistündiges Arztgespräch. Am Ende gibt es grünes Licht und einen Termin: Donnerstag, 5. März 2015, 11 Uhr, Blaues Haus in Pfäffikon, ein Vorort von Zürich.
Der letzte Samstag
Jeden Samstag hat Hans-Jürgen seine Anita bekocht. Ein Drei-Gänge-Menü, mit Kerzen und Wein. Und an diesem Wochenende vor jenem 5. März, da tut er das auch. Auf dem Viktualienmarkt kauft er ein. Es gibt Spargelcremesuppe, Saibling auf Fenchelgemüse mit Biokartoffeln, flambierte Bananen mit Eis, dazu einen Riesling. „Sie sagte: Das ist jetzt also meine Henkersmahlzeit.“ Anita und Hans-Jürgen lieben französische Filme. Diesen Abend sehen sie „Eine Komödie im Mai“ von Louis Malle. Nach der DVD bricht er zusammen. „Mir wurde klar, dass das unser letzter Samstag ist. Sie hat mich getröstet.“ Ab dem nächsten Tag, erzählt Hans-Jürgen Kaiser, hat er nur noch funktioniert. Am Mittwoch wirft Anita 15 Briefe ein, in denen sie Verwandten und Freunden mitteilt, was nun passiert. Dann fahren die beiden in die Schweiz, checken im Hotel ein.
Am Morgen des 5. März 2015 schminkt sich Anita, mit der rechten Hand geht das noch. Er sitzt auf der Bettkante und schaut ihr zu. Sie sagt: „Wenn jetzt einer sieht, wie ich mich schminke, dann denkt der auch nicht, dass ich in ein paar Stunden nicht mehr am Leben bin.“ Um 7 Uhr kommt nochmal der Arzt von Dignitas und spricht mit Anita. Es bleibt dabei. Im Hotel sieht sie beim Frühstück eine Familie mit dicken Kindern, die gerade Croissants essen: „Sie sind für ihr Alter viel zu dick und sollten nicht so viele Croissants essen, sondern Bircher Müsli und Obst – so wie ich.“ Er schaut sie über den Tisch an und denkt: In drei Stunden bist Du nicht mehr da.
Betäubungsmittel in tödlicher Dosis
Hans-Jürgen Kaiser fährt seine Frau ins Blaue Haus. Zwei Sterbehelferinnen nehmen die beiden in Empfang. Anita erzählt ihnen ihre Geschichte. Es werden Formalitäten und Unterschriften erledigt. Die Frauen erklären, was jetzt wie passiert: Anita bekommt Beruhigungstropfen und dann ein Glas mit Natrium-Pentobarbital – einem Betäubungsmittel in tödlicher Dosis. Sie muss das Medikament allein nehmen, der Vorgang wird per Videoaufzeichnung dokumentiert.
Anita führt das Glas zum Mund, Hans-Jürgen erkennt nicht das geringste Zittern. Er trägt sie auf ein Bett und ist allein mit ihr. „Sie hat mir etwas ins Ohr gesagt. Es war wunderschön. Ich behalte es für mich, das wird nie jemand erfahren. Ich wollte auch etwas sagen, aber ich konnte nichts mehr sagen.“ Nach zwei, drei Minuten wird Anita bewusstlos, nach 20 Minuten ist sie nicht mehr am Leben. Eine halbe Stunde bleibt Hans-Jürgen noch bei seiner Frau. Dann setzt er sich ins Auto. In der Schweiz muss er sich zusammenreißen, aber nachdem er die deutsche Grenze passiert hat, überholt ihn niemand mehr. Er hört Heavy Metal. Black Sabbath und Motörhead.
„Perspektive eines selbstbestimmten Suizids garantieren“
In den kommenden Tagen geht es ihm schlecht. „Als ob ich mich auflöse.“ Hans-Jürgen Kaiser zieht nach Berlin. „Ich kannte da viele Leute, ich musste Rituale und Gewohnheiten durchbrechen, ich konnte nicht in der Wohnung bleiben.“ Er will die Zeit aufarbeiten. Nicht mit einem Therapeuten, sondern mit einem Buch. Um das zu schreiben, zieht er drei Jahre später nach Leipzig. Berlin war ihm dazu zu anstrengend.
8000 Euro habe die Sterbebegleitung insgesamt gekostet. „Damit ist es natürlich auch eine Frage, wer sich das leisten kann – dafür muss eine Regelung her“, sagt Kaiser. Die prägenden Erlebnisse kommen ihm heute völlig surreal vor. Die Jahre mit der Krankheit, vor allem aber die Begleitung seiner Frau bei ihrem letzten Gang. Seit feststand, dass Anita diesen Weg gehen kann, sei sie mental befreit gewesen. Gelöst wegen der Aussicht, diesen Zustand beenden zu können. „Diese totale Verzweiflung war weg.“ Sein Appell: „Wenn die Gesellschaft die Perspektive eines selbstbestimmten und sanften Suizids garantiert, können Betroffene in ihrem großen Leid viel entspannter in die Zukunft blicken.“
Dieser Text erschien zuerst in der Leipziger Volkszeitung.
Hans-Jürgen Kaiser (2021): In drei Stunden bist Du nicht mehr da. Autobiografische Erzählung. Novum-Verlag Berlin/München. ISBN: 978-3-99107-493-9.
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