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Wichtigste Fragen und Antworten im Überblick

Die EU streitet über die Asylreform: Worum geht es in der Debatte?

Ein Rettungsteam der humanitären Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) nähert sich einem Schlauchboot mit 74 Migranten an Bord, um sie auf das Rettungsschiff „Geo Barents“ im Mittelmeer zu bringen (Symbolbild).

Ein Rettungsteam der humanitären Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) nähert sich einem Schlauchboot mit 74 Migranten an Bord, um sie auf das Rettungsschiff „Geo Barents“ im Mittelmeer zu bringen (Symbolbild).

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Hannover. Am Donnerstag beraten die Innenministerinnen und -minister der EU-Staaten in Luxemburg über eine seit Langem diskutierte Reform des Asylrechts. Zuletzt ist die Zahl der in der EU angekommenen Gelüchteten wieder stark gestiegen. Auf dem Tisch liegen Entwürfe für Gesetzestexte, die die derzeitige schwedische EU-Ratspräsidentschaft auf Basis von Vorschlägen der EU-Kommission erarbeitet hat. Sie sehen insbesondere einen deutlich rigideren Umgang mit Migrantinnen und Migranten ohne Bleibeperspektive vor. Ein Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten im EU-Streit um die Asylreform.

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Die EU streitet über eine Reform des Asylrechts

  1. Worum geht es beim Streit ums Asylrecht?
  2. Warum gibt es selbst nach jahrelangen Diskussionen noch keine Lösung?
  3. Welche Vorschläge gibt es für eine Reform des EU-Asylrechts?
  4. Welche Kritik gibt es an den Plänen?
  5. Was fordert die Bundesregierung?
  6. Welche Staaten gelten neben Deutschland als Unsicherheitsfaktor?
  7. Ist in dieser Woche eine Lösung des Streits um das Asylrecht zu erwarten?

Worum geht es beim Streit ums Asylrecht?

Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 ist klar, dass die geltenden EU-Asylregeln überarbeitet werden müssen. Damals waren Länder wie Griechenland mit einem Massenzustrom an Menschen aus Ländern wie Syrien überfordert und Hunderttausende konnten unregistriert in andere EU-Staaten weiterziehen. Dies hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn nach der sogenannten Dublin-Verordnung sollen Asylbewerberinnen und -bewerber da registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten haben. Dieses Land ist in der Regel auch für den Asylantrag zuständig.

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Seit Monaten versuchen wieder sehr viele Menschen, von Nordafrika über das Mittelmeer nach Süditalien zu gelangen. Nach Angaben aus Rom kamen seit Januar mehr als 50.000 Migrantinnen und Migranten auf Booten nach Italien. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge starben seit Jahresanfang bei Überfahrten mehr als 980 Menschen oder werden seither vermisst. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit Beginn des Jahres sogar mehr als 1100 Menschen beim Versuch der Überfahrt gestorben oder werden vermisst. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. In Deutschland wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres gut 100.000 Asylerstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegengenommen, eine Zunahme um rund 78 Prozent.

Warum gibt es selbst nach jahrelangen Diskussionen noch keine Lösung?

Beinahe alle EU-Mitgliedsstaaten haben in der Frage um das Asylrecht unterschiedliche Meinungen und Vorstellungen. Besonders die Länder an den EU-Außengrenzen wie etwa Italien oder auch Griechenland fordern mehr Engagement bei den Verfahren rund um die Migration sowie eine stärkere Beteiligung und mehr Solidarität der anderen Länder. Aktuell reisen viele Migrantinnen und Migranten, die etwa in Italien ankommen, einfach weiter in die Nachbarländer – darunter auch Deutschland oder Frankreich. Diese Länder sind an einer stärkeren Regulierung interessiert. Nicht zuletzt will etwa Ungarn gar keine Geflüchteten aufnehmen und die EU-Außengrenzen ganz schließen.

Welche Vorschläge gibt es für eine Reform des EU-Asylrechts?

Kern der aktuellen Reformvorschläge sind Maßnahmen, die zu einem deutlichen Rückgang des Zustroms von Menschen ohne Anrecht auf Schutz führen sollen. Wer aus einem Staat einreist, der als relativ sicher gilt, könnte künftig nach dem Grenzübertritt in eine streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtung kommen.

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Dort würde dann im Idealfall innerhalb von nur zwölf Wochen geprüft werden, ob die Antragstellerin oder der Antragsteller Chancen auf Asyl hat – wenn nicht, würde sie beziehungsweise er umgehend zurückgeschickt werden. Zudem soll die Überwachung und Abschiebung abgelehnter Asylsuchender erleichtert werden – zum Beispiel, indem mehr Daten über sie gesammelt und zentral gespeichert werden.

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Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) betonte, dass diese Verfahren „nicht für Menschen gelten, die vor Folter, Krieg und Terror geflohen sind“. Es gehe um schnelle und faire Asylverfahren für jene, bei denen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie in der EU Schutz benötigten. Generell gelte: „Das Asylrecht wird nicht angetastet. Wenn Menschen bei uns in Europa Asyl beantragen, dann müssen sie ein faires, rechtsstaatliches Verfahren erhalten. Jeder Fall muss individuell geprüft werden.“

Zudem soll Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Wenn Länder mit einem sehr großen Zustrom an Menschen konfrontiert sind, sollen sie die Unterstützung von anderen Mitgliedsstaaten beantragen können. Eine bestimmte Anzahl an Schutzsuchenden würde dann über einen Verteilungsschlüssel in andere Länder kommen. Länder, die wie Ungarn keine Geflüchteten aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden.

Welche Kritik gibt es an den Plänen?

Bei dem Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg soll aus Sicht des Grünen-Vorsitzenden Omid Nouripour eine Einigung bei der Asylreform nicht erzwungen werden. „Wenn das Ergebnis feststeht, werden wir miteinander beurteilen, wie wir das finden. Ich kann nur sagen: Wir werden nicht um jeden Preis alles richtig finden“, sagte der Politiker am Donnerstag im ARD-„Morgenmagazin“. Es sei offensichtlich, dass die derzeitigen Zustände an den EU-Außengrenzen nicht tragbar seien. „Deshalb wollen wir eine Reform, aber natürlich nicht um jeden Preis“, betonte er.

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Die Gruppe der deutschen Grünen im Europaparlament warnte auch vor einem Kompromiss „um jeden Preis“. Die Pläne für sogenannte Grenzverfahren würden zulasten der Menschenrechte gehen und seien wirkungslos, sagte ihr Sprecher Rasmus Andresen den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Vor allem Kinder dürften nicht monatelang in Massenlagern festgehalten werden.

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Noch kritischer äußerte sich die Linken-Europaabgeordnete Cornelia Ernst. Sie bezeichnete die Reformpläne als „ein Plädoyer für ein Europa der Zäune und Mauern“, bei dem es darum gehe, das Recht auf Asyl in Europa de facto abzuschaffen.

Was fordert die Bundesregierung?

Bundesinnenministerin Faeser hat kurz vor dem Start von EU-Beratungen über eine große Reform des europäischen Asylsystems offengelassen, ob sie den auf dem Tisch liegenden Vorschlägen zustimmen kann. „Es liegt ein Kompromiss auf dem Tisch, der ist sehr schwierig für uns in Deutschland“, sagte die SPD-Politikerin am Donnerstag bei ihrer Ankunft zu dem Innenministerrat in Luxemburg. Sie kämpfe darum, dass Familien mit kleinen Kindern nicht in das vorgesehene Grenzverfahren kommen. „Für uns als Deutschland stehen die menschenrechtlichen Standards ganz vorne“, betonte sie.

Laut Diplomaten ist eine entscheidende Frage, wie sich die deutsche Koalitionsregierung in genau dieser Frage positionieren wird. Eine sehr große Mehrheit der anderen Staaten lehnte vehement ab, dass Familien mit Kindern von neuen strengen Grenzverfahren ausgenommen werden. Sie sehen durch eine solche Regelung den Abschreckungscharakter gefährdet.

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Politikerinnen und Politiker von SPD und FDP haben die Forderungen nach einer Ausnahme für Familien mit Kindern, die besonders von den Grünen kam, mitgetragen. Sie wollen die Asylreform aber daran nicht scheitern lassen. Faeser warnte kurz vor dem EU-Treffen vor einem Scheitern der Verhandlungen. „Es ist wichtig, dass wir jetzt zu Ergebnissen kommen. Andernfalls ist mit mehr nationalstaatlicher Abschottung zu rechnen“, sagte die SPD-Politikerin vor dem Treffen in Luxemburg dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (Donnerstag).

BERLIN, GERMANY - JUNE 07: Interior and Homeland Minister Nancy Faeser arrives  for the weekly federal government cabinet meeting on June 7, 2023 in Berlin, Germany. On the morning's agenda are a new law relating to the expansion of Germany's railway network and a report on energy research. (Photo by Maja Hitij/Getty Images)

„Wer das Asylrecht antasten will, spielt das dreckige Spiel der AfD mit“

Am Donnerstag beraten die EU‑Innenminister über eine Reform des EU‑Asylsystems. Doch ob es zu einer Einigung kommt, ist ungewiss. Es stehe viel auf dem Spiel: „Wir müssen das Europa der offenen Grenzen retten“, sagt Innenministerin Nancy Faeser im Gespräch.

Die FDP appellierte zuletzt direkt an die Grünen, eine mögliche Einigung nicht zu blockieren. Die Chance für eine Reform diese Woche müsse unbedingt genutzt werden, sagte der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, der Mediengruppe Bayern. „Das Scheitern der Asylreform wäre eine schwere Hypothek für Deutschland und die gesamte Europäische Union.“

Scheitern könnte eine Abstimmung nach Angaben von Diplomaten auch an einer von der Bundesregierung geforderten Einschränkung einer Regel, die die Abschiebung von in erster Instanz abgelehnten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in Länder ermöglichen soll, die nicht ihre Heimatländer sind. Sie würde vorsehen, dass eine Abschiebung nur dann möglich ist, wenn die Betroffenen klare Verbindungen in diese Länder haben. Eine Mehrheit der EU-Staaten lehnt allerdings auch dies als kontraproduktiv ab.

Welche Staaten gelten neben Deutschland als Unsicherheitsfaktor?

Unklar ist auch, ob Italien geplante Regelungen für mehr Solidarität weit genug gehen. Die Asylreform ohne Unterstützung der Regierung in Rom auf den Weg zu bringen gilt als wenig sinnvoll, da in dem Land derzeit die meisten Migrantinnen und Migranten ankommen und die EU darauf angewiesen ist, dass sich Italien dann an die neuen Regeln hält.

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Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats wurden in Italien in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Migrantinnen und Migranten registriert, die über das Mittelmeer kamen. Die meisten von ihnen kamen aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch und hatten damit so gut wie keine Aussichten auf eine legale Bleibeperspektive.

Daneben stellt sich besonders Ungarn bei einer Lösung des Asylstreits quer. Das Land will keine Geflüchteten aufnehmen. Laut der Gesetzesvorschläge soll das Land dann aber Geld an andere EU-Mitglieder zahlen, die Asylsuchende aufnehmen. Im Gespräch waren zuletzt Summen um die 20.000 Euro pro Person.

Ist in dieser Woche eine Lösung des Streits um das Asylrecht zu erwarten?

Es ist nicht auszuschließen, dass es erneut keine Lösung in dem Streit geben wird. Denkbar ist, dass dann in einigen Wochen noch einmal ein Sondertreffen der Innenministerinnen und -minister organisiert wird. Voraussetzung für einen Beschluss zu den Plänen ist, dass 15 von 27 Mitgliedsstaaten mit Ja stimmen, wobei diese zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen müssen.

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Sollte der EU-Ministerrat bis zur Sommerpause keinen Beschluss fassen, dürfte es kaum noch eine Chance geben, das Reformprojekt in absehbarer Zeit über die Ziellinie zu bringen. Grund ist, dass es auch noch Verhandlungen mit dem Europaparlament darüber geben muss. Diese könnten Monate dauern – dann reicht möglicherweise die Zeit nicht mehr, das Projekt vor der Europawahl im Juni 2024 abzuschließen.

EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola sagte der „Welt“ zu dem Treffen am Donnerstag: „Wir können uns nicht erlauben, Zeit zu verlieren, möglicherweise sogar Jahre.“ Man brauche nun von allen EU-Ländern einen konstruktiven Ansatz und eine schnellstmögliche Entscheidung.

RND/sic/dpa/epd

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