Hohe Corona-Dunkelziffer: Kritik am „Datenblindflug“ der Bundesregierung
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Die Corona-Inzidenz sinkt, Fachverbände gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus. Wie können auf dieser Grundlage fundierte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie getroffen werden?
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Berlin. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist im Sinkflug. Während sie am 24. März noch auf einem Rekordhoch von 1943,8 lag, hat sich rund vier Wochen später mit 688,3 mehr als halbiert. Doch dieser Wert hinkt gleich zweifach. Über die Osterfeiertage meldeten sieben Bundesländer nämlich keine Zahlen an das Robert Koch-Institut (RKI), weswegen die Inzidenzwerte erst zu Beginn der kommenden Woche aussagekräftiger werden.
Hinzu kommt: Die Fallzahlen sind wesentlich höher, als die aktuell gemeldeten. „Wir rechnen mit einer Dunkelziffer mal zwei, was die gemeldeten Corona-Fälle angeht“, sagt Johannes Nießen, Vorsitzender des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienste (BVÖGD), dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Viele Faktoren führen zu größerem Dunkelfeld
Neben der Feiertage hat der BVÖGD-Vorsitzende Nießen eine generelle Erklärung für die unklare Datenlage: Nicht alle Personen, die per Schnelltest positiv getestet seien, ließen einen PCR-Test machen. „Zudem beobachten wir einen lockereren Umgang mit Corona, nicht alle mit Erkältungssymptomen lassen sich testen, Geimpfte testen sich kaum noch und 3G gilt nur noch in wenigen Bereichen“, erklärt der Verbandschef. „Das führt dazu, dass das Dunkelfeld größer wird.“
Hausärzte-Chef Ulrich Weigeldt kritisiert den „Datenblindflug“. Die unvollständigen Meldungen an den Feiertagen seien allerdings „leider unser kleinstes Problem“, sagt er dem RND. Schlimmer sei es, „dass auch die gemeldete Zahl der Hospitalisierungen nicht wirklich aussagekräftig ist“. Schließlich sei nicht bekannt, wie viele der Patientinnen und Patienten wegen ihrer Corona-Infektion ins Krankenhaus eingeliefert würden und bei wie vielen es ein Nebenbefund sei. Weigeldt plädiert für breit angelegte Kohortenstudien, die unter anderem Erkenntnisse über die Grundimmunisierung der Bevölkerung liefern könnten. „Andere Länder sind da deutlich weiter.“
Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, warnt vor „Blindflügen in der Datenerfassung“. Die Ampelkoalition solle „die in der letzten Wahlperiode begonnene Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes weiter fortführen, um die Gesundheitsämter vor Ort zu ertüchtigen“, fordert er.
Dass die Bundesregierung auf einer so diffusen Datengrundlage Entscheidungen trifft, nennt Unionsfraktionsvize Sepp Müller „problematisch“. Gleichzeitig stellt er in Frage, ob die tägliche Veröffentlichung der Infektionszahlen angesichts der Belastung der Gesundheitsämter noch zeitgemäß sei. „Eine Status-quo-Meldung pro Woche während des Sommers“ reiche ihm zufolge aus.
Weigeldt bringt einen weiteren Parameter zum Ermessen der aktuellen Corona-Situation ins Spiel: Die Expertise der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Die hätte schon längst einbezogen werden sollen, sagt er. Das sei sinnvoller, als die Betrachtung von bedingt aussagekräftigen Daten. „Daher ist es auch vollkommen unverständlich, dass keine niedergelassene Ärztin oder kein niedergelassener Arzt Mitglied im Expertenrat ist.“