Mehr Kritik an Putins Strategie: Das Brodeln unter der Oberfläche nimmt zu
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Eine Gruppe von Frauen hält ein Schild mit der Nummer einer militärischen Einheit, dazu als Datum den 11. März.
© Quelle: sotaproject/Telegram
Es sind Bilder, die das Kremlnarrativ von einem Volk, das wie ein Mann hinter den kämpfenden Soldaten in der „Spezialoperation“ steht, empfindlich stören. Zwei Dutzend Frauen stehen da bei schwacher Beleuchtung in einer schneebedeckten Stadt, ihre Gesichter drücken Besorgnis aus. Sie halten ein Schild hoch, das keine Forderung stellt – nur die Nummer einer militärischen Einheit nennt, dazu als Datum den 11. März.
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Die Frauen wenden sich in einem Video, geteilt im unabhängigen russischen Telegram-Kanal SOTA, direkt an den russischen Präsidenten. In einer „Bitte“, wie traditionell in Russland früher schon oft geschehen. Weil der Herrscher, egal ob Zar oder Diktator Stalin, stets als eine Art Übervater wahrgenommen wird, der für das irdische Elend, für das stets seine Handlanger verantwortlich gemacht werden, nichts kann.
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Die Frauen fordern Putin im Video auf, ihre Ehemänner und Söhne nicht mehr „zur Schlachtbank“ zu führen, indem man sie zwingt, in Angriffswellen gegen den Feind vorzurücken – ohne adäquate Ausbildung, ohne Vorräte und Ausrüstungen. Die Männer hätten seit ihrer Mobilisierung im September lediglich vier Tage militärisches Training absolviert, bevor sie im Krieg verheizt würden.
Der Kreml reagiert milde – anders als bei Protesten am Anfang des Krieges. Immer wieder trifft sich Präsident Wladimir Putin mit Angehörigen und Soldatenmüttern, es werden Versprechungen gemacht, in bewährter sowjetischer Manier.
Verdoppelung der Produktion versprochen
Am Dienstag ordnete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Verdoppelung der Produktion von Hochpräzisionsraketen eines führenden russischen Rüstungskonzerns an. Allein die Realität sorgt dafür, dass es auf Grund von sanktionsbedingten Materialengpässen und Fachkräftemangel durch immer neue Rekrutierungswellen wohl dazu nie kommen wird.
Laut dem Schild im Video gehören die Angehörigen der protestierenden Frauen zur 580. Haubitzen-Division, nachprüfen lässt sich die Echtheit des Fotos und des Clips allerdings nicht.
Unsere eingezogenen (Männer) werden wie Lämmer zur Schlachtbank geführt, um befestigte Gebiete zu stürmen – fünf auf einmal gegen 100 schwer bewaffnete feindliche Männer.
„Mein Mann … befindet sich an der Frontlinie“, sagt eine Frau im Video. „Unsere eingezogenen (Männer) werden wie Lämmer zur Schlachtbank geführt, um befestigte Gebiete zu stürmen – fünf in einer Gruppe gegen 100 schwer bewaffnete feindliche Männer“, fuhr sie laut CNN fort. „Sie sind ja bereit, ihrer Heimat zu dienen, aber nur gemäß der Spezialisierung, für die sie ausgebildet wurden – nicht als Sturmtruppen. Wir bitten Sie, unsere Jungs von der Front zurückzuziehen und diese Artilleristen mit Artillerie und Munition zu versorgen.“
Traditionell haben Soldatenmütter in der ansonsten patriarchalisch geprägten russischen Gesellschaft einen großen Einfluss. 1989, kurz vor Ende der Sowjetunion und unter dem Einfluss des verlustreichen Afghanistankrieges, wurde die „Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands“ gegründet, seit 1991 wird sie offiziell beim Justizministerium als Organisation anerkannt.
Das Kommando hat uns direkt gesagt, dass wir entbehrlich seien und dass unsere einzige Chance, je wieder nach Hause zurückzukehren, darin besteht, verletzt zu werden.
Wehrpflichtige aus Irkutsk
Doch auch betroffene Rekruten wehren sich. In einem ähnlichen Video, von dem das russische Exilmedium „Meduza“ berichtet, machen Wehrpflichtige aus Irkutsk Putin und der russischen Militärführung schwere Vorwürfe: „Das Kommando hat uns direkt gesagt, dass wir entbehrlich seien und dass unsere einzige Chance, je wieder nach Hause zurückzukehren, darin besteht, verletzt zu werden“, so die Soldaten.
Sie berichten zudem, dass Kommandeure der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“ mit Maschinengewehren und Schützenpanzern auf Wehrpflichtige gefeuert hätten, als diese sich weigerten, sich den Angriffseinheiten im Raum Awdijiwka (nördlich der Stadt Donezk) anzuschließen.
Bataillon fast vollständig zerstört
Ihr Bataillon sei „fast vollständig zerstört“, fügen die Soldaten hinzu. Sie erlitten täglich schwere Verluste, weil die Führung die „wirkliche“ Situation an der Front nicht kenne. Sie sagen, dass ihre Einheit seit November sechsmal mit mobilisierten Soldaten aufgefüllt wurde.
Das war bereits das dritte Videostatement dieser Art in kurzer Zeit, das im Westen bekannt wurde. Derartige Proteste von Soldaten stehen ganz sicher im Zusammenhang mit den gewaltigen Verlusten, die die Russen gegenwärtig in der Ostukraine erleiden, ist Kirill Michailow, Aktivist des oppositionellen „Conflict Intelligence Teams“ (CIT), gegenüber „Meduza“ überzeugt.
Dass einige mobilisierte Soldaten nur mit Gewehr und Späten an die Front geschickt wurden, kann ich mir gut vorstellen.
András Rácz, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
„Dass einige mobilisierte Soldaten nur mit Gewehr und Späten an die Front geschickt wurden, kann ich mir gut vorstellen“, hatte András Rácz, Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), jüngst im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gesagt. Und bezog sich dabei auf entsprechende Berichte des britischen Geheimdienstes.
„Als die Mobilisierung begann, mussten viele Soldaten ihre Ausrüstung selbst kaufen, sogar den Schlafsack und die kugelsichere Weste“, so Rácz. Mobilisierte Soldaten erhalten in Russland oft nur eine schlechte, manchmal aber auch gar keine Ausrüstung.
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Vor allem die einst sehr kampfstarken weil von motivierten „Einheimischen“ aus der Ostukraine getragenen Streitkräfte der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, der Separatistengebiete also, sind nach Jahren des seit 2014 anhaltenden Konflikts mit den ukrainischen Streitkräften personell dermaßen ausgedünnt, dass sie jetzt mit frisch rekrutierten Russen aufgefüllt werden.
Diese hätten gar keine Motivation, seien nicht oder kaum ausgebildet – und erhielten kaum militärisches Gerät. Einige Wehrpflichtige erhielten sogar die noch im Zarenreich entwickelten Mosin-Nagant-Repetiergewehre, die eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell außer Dienst gestellt worden waren.
Ausdruck zunehmenden Kontrollverlusts
Dass es die gleichgeschaltete russische Gesellschaft nicht schafft, den anschwellenden Chor kritischer Stimmen verstummen zu lassen, ist Ausdruck eines zunehmenden Kontrollverlusts durch Präsident Wladimir Putin. Das musste jüngst sogar Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, laut einem Bericht des amerikanischen Instituts für Kriegsstudien (ISW) in einer Podiumsdiskussion einräumen.
Sacharowa äußerte, dass der Kreml eine am historischen sowjetisch-stalinistischen Vorbild ausgerichtete „zentrale Informationskontrolle“ nicht umsetzen könne, weil es innerhalb der Führung „Kämpfe“ zwischen nicht näher bezeichneten „Eliten“ gäbe. Das ISW bilanziert, dass „Putin offensichtlich nicht in der Lage ist, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, um die Kontrolle darüber zurückzugewinnen“.