EU-Beitritt und Integration: Wie die deutsche Politik auf die Türkei-Wahl reagiert
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An einem Auto in Berlin sind am Wahlabend türkische Flaggen befestigt.
© Quelle: IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Berlin. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) war einer der Ersten, die reagierten. Noch am Wahlabend kommentierte er die Autokorsos von jubelnden Anhängern des gerade wiedergewählten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Deutschland. Es handele sich nicht um „Feiern harmloser Anhänger eines etwas autoritären Politikers“, twitterte der türkischstämmige Politiker. „Sie sind eine nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie und Zeugnis unseres Scheiterns.“ Am Pfingstmontag legte er nach: „Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen.“ Unter anderem über die Bedingungen für die Zulassung von Imamen müsse man sprechen. „Die Zeitenwende, die wir Gott sei Dank endlich haben im Umgang mit Putin, die braucht es jetzt auch im Umgang mit türkischem Ultranationalismus, die braucht es jetzt auch im Umgang mit Fundamentalismus“, forderte er.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ließ dies nicht erkennen: Er gratulierte Wahlsieger Erdogan telefonisch, lud ihn nach Berlin ein und verkündete, man wolle die deutsch-türkischen Beziehungen „mit frischem Elan“ angehen. Scholz überließ es SPD-Chef Lars Klingbeil, Erdogan aufzufordern, nach seinem knappen Wahlsieg einen Politikwechsel einzuleiten. Dieser habe fast die Hälfte des Landes mit seinem politischen Kurs nicht mehr erreicht, sagte Klingbeil dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Der Wunsch nach einer Rückkehr zu rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien und danach, dass die Vielfalt im Land eine Chance bekommt, war das stärkste Argument gegen Erdogan. Er kann diese Stimmen nicht einfach ignorieren und weiter klein halten.“
„Diese türkische Regierung ist Lichtjahre von Europa entfernt“
Von FDP und CSU kam die Forderung, nun den bereits auf Eis gelegten EU-Beitrittsprozess der Türkei für gescheitert zu erklären. „Der EU-Beitrittsprozess muss beendet werden“, sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai dem RND. „Diese türkische Regierung ist Lichtjahre von Europa entfernt.“ Das Land befinde sich seit Jahren auf einem autoritären Kurs. „Menschen- und Bürgerrechte werden systematisch eingeschränkt, und die wirtschaftliche Lage ist desolat. Dieser Kurs wird sich fortsetzen.“ Auch das Wahlverhalten einiger Türken und Türkinnen in Deutschland sei enttäuschend. Es hinterlasse viele integrationspolitische Fragen. Auch Manfred Weber, CSU-Vizevorsitzender und Chef der Europäischen Volkspartei, forderte ein Ende des EU-Beitrittsprozesses: „Diesen Prozess müssen wir zu den Akten legen, weil er bessere Beziehungen mehr blockiert als unterstützt“, sagte er den Funke-Medien.
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Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), machte Zweifel am EU-Beitrittsprozess deutlich: „Nachdem sich die Türkei abermals für Erdogan entschieden hat, muss sie klären, ob sie ernsthaft bereit ist, wieder konkrete Schritte auf die EU zuzugehen“, sagte Roth dem RND. Erdogan müsse außerdem noch vor dem Nato-Gipfel im Juli sein Veto gegen einen Nato-Beitritt Schwedens aufgeben. Um im Europarat bleiben zu können, müsse die Türkei ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllen. Dazu gehöre es, „die Urteile des Europäischen Gerichtshofs endlich umzusetzen“. So müsse unter anderem der Menschenrechtsaktivist Osman Kavala freigelassen werden.
Trittin für schärfere Regeln für Investitionen in der Türkei
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, warnte vor einem Abbruch des EU-Beitrittsprozesses. Dies wäre „ein Schlag ins Gesicht der Opposition und aller derer, die darauf setzen, irgendwann wieder in einer demokratischeren Türkei leben zu können“, sagte Schmid dem RND. „Die geringen Spielräume für den politischen Wettbewerb müssen weiter offen gehalten werden – in der Türkei, aber auch durch Zeichen von außen.“
Auch Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin wandte sich gegen ein Ende des Beitrittsprozesses. Ein solcher Schritt würde „de facto nichts ändern, aber Erdogan in die Hände spielen“, sagte er dem RND. Um die Haltung der EU zu verdeutlichen, „sollte man keine Papiertiger bemühen“. Trittin brachte stattdessen schärfere Regeln für Investitionen aus der EU ins Spiel: „Die Türkei ist auf Investitionen aus der EU angewiesen. Diese müssen stärker als bisher an Bedingungen mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte geknüpft werden.“
Die Union forderte die Bundesregierung auf, klar Position zu beziehen. „Wir erwarten, dass sie nunmehr ihre Angeobte zur Zusammenarbeit und die Erwartungen gegenüber der Türkei präsentiert“, sagte Vizeunionsfraktionschef Johann Wadephul dem RND. Die Hoffnungen auf eine Annäherung an Europa seien zerstoben. Aber die Türkei bleibe ein wichtiger strategischer Partner.