Kongresswahlkampf in den USA: Wie viel bringt den Demokraten der Frust über das Abtreibungsrecht?
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Abtreibungsrechtler versammeln sich vor dem Obersten Gerichtshof in Washington (Archivfoto).
© Quelle: Jose Luis Magana/AP/dpa
Dale City. Sie könnte jetzt bei schönstem Herbstwetter mit ihrem Mann auf der Terrasse Kaffee trinken. Stattdessen ist Wendy Putnam an diesem Samstagmorgen früh ins Auto gestiegen und eine knappe Stunde von Maryland in den Nachbarstaat Virginia gefahren. „Bei uns im Bezirk sieht es gut aus für die Demokraten, aber hier ist das Rennen wirklich eng“, sagt die 55-jährige Kommunikationsberaterin: „Deshalb will ich helfen.“
Mit Putnam haben sich im Feuerwehrhaus von Dale City mehr als hundert Frauen, Männer und Jugendliche eingefunden, um die lokale Kongressabgeordnete Abigail Spanberger im Wahlkampf zu unterstützen. Nach einer kurzen Motivationsrede werden sie von Tür zu Tür der Mittelschichtsiedlung vor den Toren von Washington ziehen und Flugblätter verteilen. Einige tragen rote T-Shirts mit Slogans für schärfere Waffengesetze. Andere fordern auf grünen Plakaten mehr Klimaschutz. Alles richtig, findet Putnam: „Aber das wichtigste Thema ist für mich dieses Mal das Recht auf Abtreibung.“
„Das wichtigste Thema für mich ist dieses Mal die Abtreibung“, sagt Wendy Putnam. Sie ist an einem Samstagmorgen eine Stunde gefahren, um Haustürwahlkampf für die Demokraten zu machen.
© Quelle: Karl Doemens
Die Kampagnenstrategen der US-Demokraten setzen darauf, dass möglichst viele Frauen in den umkämpften Vorstädten so denken wie Putnam. Die hohe Inflation, Angst vor einer Rezession und die wachsende Kriminalität helfen laut Umfragen bei den bevorstehenden Zwischenwahlen den Republikanern. Aber ausgerechnet die von Konservativen als Jahrhundertsieg gefeierte Aufhebung des Abtreibungsrechts durch den obersten Gerichtshof könnte sich für Amerikas Rechte als Bumerang erweisen: Zu drakonisch wirken die damit losgetretenen Gesetzesverschärfungen, zu brutal die individuellen Konsequenzen für Betroffene.
Ärzte zögern mit Verschreibung selbst von Arthritis-Präparaten
In zwölf Bundesstaaten vor allem im Südosten der USA sind Schwangerschaftsabbrüche inzwischen ganz verboten. Vier weitere Bundesstaaten werden folgen. Aus Angst, in rechtliche Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, weisen Kliniken inzwischen Frauen selbst bei Fehlgeburten ab oder wollen Schwangerschaftskomplikationen nicht mehr behandeln. Ärzte und Ärztinnen zögern, bestimmte Mittel gegen Arthritis und Osteoporose zu verschreiben, weil die Präparate auch für eine Abtreibung genutzt werden könnten. Das schockt viele Amerikanerinnen und Amerikaner: Bei einer Umfrage des Instituts Kaiser Family Foundation erklärte vor zwei Wochen die Hälfte der Befragten, das Urteil des Supreme Courts motiviere sie zur Stimmabgabe. Drei Viertel von ihnen wollten für Kandidaten stimmen, die den legalen Schwangerschaftsabbruch verteidigen.
Das deckt sich mit den Erfahrungen, die Abigail Spanberger gemacht hat. Die ehemalige CIA-Agentin ist 2018 aus Wut über die Politik von Donald Trump erstmals angetreten und konnte als Demokratin das bislang republikanische Mandat im siebten Wahlbezirk von Virginia gewinnen. In ihrer Partei gehört die dreifache Mutter zum moderat-konservativen Flügel. Das passt zur Stimmung an der Basis hier in Virginia und sicherte ihr 2020 die Wiederwahl. In diesem November aber steht es für die 43-Jährige Spitz auf Knopf. Bundesweit sind die Demokraten zur Halbzeit von Joe Biden unter Druck. Auch Spanbergers anfänglicher Umfragevorsprung ist bedrohlich geschrumpft. Ihr Kopf-an-Kopf-Rennen mit der republikanischen Herausforderin Yesli Vega gilt als eines der spannendsten bei den Zwischenwahlen.
„Danke, dass ihr alle gekommen seid“, beginnt Spanberger ihre kurze Ansprache von einem kleinen Podium. Hinter ihr kleben Dutzende blaue Plakate mit ihrem Namen. Aber in diesem Kreis muss sie niemanden mehr überzeugen. Sie plaudert eher und berichtet von ihrer pubertierenden Tochter. „Weißt du eigentlich, was ich gerade gemacht habe?“, sei es ihr jüngst bei einer Auseinandersetzung mit dem Teenager entfahren: „Ich habe gerade dem weitreichendsten Klimagesetz seit Langem zugestimmt.“ Die Zuhörerinnen und Zuhörer applaudieren lachend.
Nennt ihre Herausforderung „zu extrem für Virginia“: Die demokratische Abgeordnete Abigail Spanberger (rechts) bei einem Unterstützertreffen in Dale City.
© Quelle: Karl Doemens
Die Erfolge der Biden-Regierung
Draußen im Wahlkampf redet die Politikerin viel über die Erfolge der Biden-Regierung: das Infrastrukturgesetz, die Begrenzung der Arzneipreise und die Förderung der heimischen Chipproduktion. Doch immer wieder, berichtet sie im Gespräch, sei die Abtreibung ein Thema: Nicht nur Demokraten, sondern auch unabhängigen und selbst einigen konservativen Wählerinnen und Wählern gehe der Rollback der weiblichen Selbstbestimmungsrechte zu weit: „Mir haben Republikaner gesagt, dass sie persönlich für den Schutz des ungeborenen Lebens sind“, erzählt sie: „Aber sie sind dagegen, dass die Regierung Frauen eine Schwangerschaft anordnen kann.“
Spanberger muss nicht auf die Zustände in Texas oder Oklahoma verweisen, um Beispiele für neue Restriktionen zu finden. Ihre Gegenkandidatin Yesli Vega liefert sie frei Haus: Die Republikanerin hat das Supreme-Court-Urteil gefeiert, propagiert ein Abtreibungsverbot ohne Ausnahmen und hat ernsthaft angezweifelt, dass Frauen von einer Vergewaltigung schwanger werden können. In Fernsehspots spießt die Spanberger-Kampagne das auf. „Yesli Vega ist zu extrem für Virginia“, lautete die Botschaft.
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Ganz ähnlich argumentiert Joe Biden, als er ein paar Tage später in Washington auftritt. Die Bühne des Howard Theaters im inzwischen heftig gentrifizierten Stadtteil Shaw, wo einst afroamerikanische Jazzlegenden wie Duke Ellington und Ella Fitzgerald auftraten, ist mit zwei großen amerikanischen Fahnen und einem riesigen blauen Plakat dekoriert, auf dem überlebensgroß „Restore Roe“ (Setzt Roe wieder in Kraft) steht. „Roe gegen Wade“ – das ist das bahnbrechende Urteil, mit dem der Supreme Court 1973 Abtreibungen weitgehend legalisierte.
Biden spricht von „der Wut, der Sorge und der Fassungslosigkeit“, die viele Amerikaner und Amerikanerinnen erfasst hätten, als dieses verfassungsrechtliche Grundrecht im Juni nach einem halben Jahrhundert plötzlich kassiert wurde. Der Präsident nimmt das Mikrofon in die Hand, als wolle er ganz sicher sein, dass seine Botschaft ankommt und warnt vor weiteren Verschärfungen. Schon bereiten Republikaner nationale Verbote vor: „Der einzige sichere Weg, diese extremistischen Vorstöße zu stoppen, ist, dass der Kongress ein Gesetz verabschiedet.“ Dazu müssten bei den Zwischenwahlen „ein paar Stimmen“ im Senat hinzugewonnen werden. Dann setzt Biden feierlich an: „Wenn das gelingt, verspreche ich euch und dem amerikanischen Volk: Das erste Gesetz (…), das ich im Januar unterschreiben werde, wird Roe gegen Wade festschreiben.“
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Plötzliche Zweifel an der Strategie
Die dauerhafte Sicherung des Abtreibungsrechts als wichtigstes Wahlversprechen: Von den Zuhörerinnen und Zuhörern im Saal wird Biden dafür gefeiert. Doch nicht überall ist die Begeisterung ungeteilt. Skeptiker weisen darauf hin, dass die Demokraten eine solche gesetzliche Regelung seit 50 Jahren nicht zustande gebracht haben. Auch kommen in der Schlussphase des Wahlkampfes plötzlich Zweifel auf, ob der Kampf für das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der Frauen bei den Wahlen tatsächlich genügend Stimmen bringen wird, um die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse im Kongress auch nur zu verteidigen.
Noch mehr als der gesellschaftspolitische Rückfall in die 1970er-Jahre scheinen viele Amerikaner nämlich die aktuelle Inflation und die Sorge vor einer Rezession zu beschäftigen. Eine aktuelle Umfrage der „New York Times“ hat die Kampagnenstrategen regelrecht alarmiert. Laut der Erhebung ist der Anteil derjenigen, die den Zustand der Wirtschaft als wichtigstes Thema bei den Midterms bezeichnen, seit Juli um 8 Punkte auf gewaltige 44 Prozent gestiegen. Davon wollen zwei Drittel die Republikaner wählen. Nur 5 Prozent der Befragten sagen hingegen, dass das Abtreibungsthema ihre Entscheidung dominiert.
Lange hatten die Wahlstrategen der Demokraten geglaubt, mit der Empörung über das Supreme-Court-Urteil den Frust über die Teuerung ausgleichen zu können. „Das sieht zunehmend wie Wunschdenken aus“, merkt die „New York Times“ an. Auch im progressiven Lager wächst die Nervosität. „Es wäre ein politischer Fehler, den Zustand der Wirtschaft zu ignorieren“, mahnt der linke Senator Bernie Sanders: „Ich bin alarmiert, dass viele Berater den Demokraten raten, ihr Schlussargument solle sich auf die Abtreibung konzentrieren.“
Sieht die drohenden Abtreibungsverbote als Weckruf für ihre Wähler: Die Abgeordnete Spanberger im Gespräch mit dem US-Korrespondenten des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), Karl Doemens.
© Quelle: Karl Doemens
Doch eine überzeugende neue Botschaft ist auf den letzten Metern des Wahlkampfes ebenso schwer zu finden wie ein Wundermittel gegen die Inflation. Bei ihren Auftritten in Virginia redet Abigail Spanberger durchaus über die wirtschaftliche Lage: „Natürlich ist das eine Herausforderung“, sagt sie: „Die Menschen spüren es im Supermarkt, an der Tankstelle und in der Apotheke. Ich spreche darüber, was wir schon an Gesetzen verabschiedet haben und was wir noch vorhaben.“ Der Kontrast zu ihrer Herausforderin, glaubt die Demokratin, könne schon bei diesen Themen nicht größer sein: „Sie hat absolut keinen Plan.“ Der Kampf um das Abtreibungsrecht aber verdeutliche den Bürgerinnen und Bürgern am stärksten, wie viel bei dieser Wahl auf dem Spiel steht.
Welches Thema treibt die Wähler an die Urnen?
Alles hängt nun von der Mobilisierung ab. Treibt der Frust über den Benzinpreis die Bürger tatsächlich ins Wahllokal? Bedanken sich die Konservativen bei den Republikanern mit einem Kreuzchen für die Abschaffung des Abtreibungsrechts? Oder strömen umgekehrt liberale Wähler zu den Urnen, um ihre Rechte zu verteidigen?
„Ich rede mit allen: meinem Uber-Fahrer, der Verkäuferin im Supermarkt und meinen Nachbarn.“ Lianne Ball setzt auf die Mobilisierung der liberalen Wähler bei den Zwischenwahlen.
© Quelle: Karl Doemens
In Dale City hofft Lianne Ball auf den letzten Effekt. „Ich habe schon als junge Frau für das Recht gekämpft, über meinen eigenen Körper zu entscheiden“, sagt die Umweltforscherin nach Spanbergers Kundgebung. „Ja, natürlich haben wir eine hohe Inflation“, räumt sie ein: „Aber dafür kann Biden nichts. Es gibt einen Krieg in der Ukraine!“
„Vote“ (Geh wählen!) steht auffordernd auf dem T-Shirt, das die 60-Jährige trägt. Es ist ihr Motto in den Tagen bis zum 8. November: „Ich rede mit allen: meinem Uber-Fahrer, der Verkäuferin im Supermarkt und meinen Nachbarn.“ Ball ist überzeugt: „Der menschliche Kontakt ist das beste Mittel der Wahlwerbung.“