Magerwahn im Medaillenkampf: Wenn Leistungssport zu Essstörungen führt
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Die Potsdamer Para-Schwimmerin Maike Naomi Schwarz hatte ihre Probleme öffentlich gemacht.
© Quelle: Tilo Wiedensohler/imago
Frankfurt am Main/Potsdam. Wenn Weltklasse-Turnerin Kim Bui heute mit Nachwuchssportlerinnen trainiert, geht es der Ex-Athletin längst nicht nur um den Sport. Sie will aufklären. Über ein Thema, das im Leistungssport immer noch ein Tabu ist. „Mit 15 Jahren fing ich an, mich zu übergeben. Es musste raus, ich durfte einfach nicht zunehmen“, erzählt die heute 34-Jährige in der ARD-Doku „Hungern für Gold“ über ihre Bulimie.
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Mit dem Schritt in die Öffentlichkeit ist sie nicht allein. Auch Formel-1-Pilot Valtteri Bottas, die französische Tennisspielerin Caroline Garcia und die Schweizer Biathletin Lena Häcki-Groß machten zuletzt öffentlich, von Essstörungen betroffen zu sein. „Ich habe mich körperlich und geistig krank trainiert“, bekannte Bottas im finnischen Fernsehen. Er habe sich damals vor allem von Brokkoli ernährt. „Es geriet außer Kontrolle und wurde zu einer Sucht.“
Maike Naomi Schwarz: „Selbstzerstörerisch gehandelt“
Auch eine Brandenburger Spitzensportlerin berichtete voriges Jahr in einem beeindruckenden MAZ-Interview von ihren Essstörungen: Maike Naomi Schwarz, die unter ihrem Geburtsnamen Schnittger zu Paralympics-Silber, EM- und WM-Medaillen sowie Europa- und Weltrekorden geschwommen ist. Bei ihr ging die Essstörung mit Depressionen einher, „schwer zu sagen, was einander bedingt hat“, meinte die seh-gehandicapte Athletin des SC Potsdam.
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Maike Naomi Schwarz, damals noch unter ihrem Geburtsnamen Schnittger, bei einer NDR-Fernsehsendung im Jahr 2019.
© Quelle: gbrcivia www.imago-images.devia www.imago-images.de
„2017 habe ich gemerkt, dass sich in mir etwas verändert, ich bin sehr unsicher geworden, selbstkritisch, bekam 2018 Essstörungen.“ Mit diesen habe sie „selbstzerstörerisch gehandelt“, sagte Schwarz. „Ich war permanent krank, habe immer gefroren, war immer müde. Aber ich war beratungsresistent. Mein Mann konnte sagen, was er wollte, da kam bei mir nichts an, linkes Ohr rein, rechtes wieder raus. Ich hatte schon immer die Tendenz, bin auch familiär hinsichtlich Magersucht vorbelastet.“
Sven Hannawald eines der ersten erschreckenden Beispiele
„Sportlerinnen und Sportler haben im Leistungssport ein erhöhtes Risiko, Essstörungen zu entwickeln“, sagt Sportmediziner Wilhelm Bloch. Zwischen zehn und zwanzig Prozent aller Athleten seien betroffen. Besonders anfällig seien Sportarten, in denen Gewicht und Ästhetik eine Rolle spielen, etwa Rhythmische Sportgymnastik, Skispringen oder Ausdauersportarten wie Langstreckenlauf.
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Skisprung-Ikone Sven Hannawald im Jahr 2003.
© Quelle: imago
Die Debatte um Essstörungen im Leistungssport ist nicht neu. Schon vor rund 20 Jahren sorgten Bilder des abgemagerten Skispringers Sven Hannawald für Diskussionen. „Es musste einfach sein, weil in meinem Punkt war das Thema Gewicht das Erfolgsrezept“, sagt der Ex-Skispringer heute.
Leichtathletik: Tendenz zu immer dünneren Sportlern
Der Ski-Weltverband Fis führte 2004 eine Regel für den Body-Mass-Index (BMI) ein. Ein zu niedriger BMI, der sich aus Gewicht und Größe errechnet, führt zur Verkürzung der Skilänge. „Ich würde mir schon wünschen, dass mehr Sportarten darauf achten und auch gewisse Gewichtslimits einführen“, sagte Bloch. „Aber es geht nicht in jeder Sportart so einfach wie im Skisprung über die Skilänge. Beim Laufen wird es schon wesentlich schwieriger.“
Besonders in der Leichtathletik beobachte er eine Tendenz zu immer dünneren Sportlern. „Wenn Athleten mit einem BMI von 15 oder 16 in einen Wettkampf gehen, ist das kritisch und auf Dauer gesehen eine Gefahr für die Gesundheit“, erklärte der Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln.
Krankheitsbild mit schweren langwierigen Folgen
Das Krankheitsbild dahinter: „Anorexia athletica“. „Die Anorexia athletica ist dadurch definiert, dass ich zu wenig Energie aufnehme, der Körper an Masse verliert und ich in ein kritisches Level komme, was meine Masse betrifft, um eine bessere Leistung zu erbringen“, erläuterte Bloch.
Doch das Abnehmen für sportliche Höchstleistungen kann langwierige Folgen haben: Das Ausbleiben der Regelblutung durch einen gestörten Hormonhaushalt bei Frauen, Probleme mit den Knochen einhergehend mit einem höheren Risiko von Osteoporose und einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit. Aber auch gastrointestinale Beschwerden oder organische Schäden bis hin zu Depressionen.
Unsensible Trainer oder Funktionäre als Problem
So wie im Fall von Maike Naomi Schwarz. „An manchen Tagen war ich unfassbar traurig und erschöpft, sodass ich kaum aus dem Bett kam. Und dann gab es Tage, an denen ich gar nichts fühlte, keine Trauer, keine Freude, einfach gar nichts – als wäre ich innerlich tot“, erzählte die 28-Jährige. Zahlreiche Verletzungen, eine Operation wegen Gebärmutterhalskrebs im Frühstadium, die Diagnose Rheuma und drei Todesfälle in der engeren Familie setzten ihr physisch und psychisch zu.
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2016 jubelte Maike Naomi Schwarz (r.) über Paralympics-Silber.
© Quelle: EPA/Alex Molina/dpa
Im Rückblick betonte sie auch, dass Trainer und Funktionäre einen Anteil an ihren Essstörungen hätten. „Es ist nicht einfach, was sich Frauen und Mädchen da anhören müssen: ,Kein Wunder, dass du langsam bist, du bist zu dick, schleppst zu viel Masse herum, geh dich mal wiegen, iss mal weniger’“, seien Aussagen gewesen. „Ich bin nicht die Erste, die damit zu kämpfen hat. Aber ich glaube, dass diese Aussagen nicht einmal böswillig sind, sondern nur unsensibel. Es ist ein Tipp, um an einer Stellschraube für bessere Leistungen zu drehen – nur eben auf sehr schlechte Weise rübergebracht.“
Viel Aufklärungsarbeit im Sport notwendig
Daher sei die Aufklärung von Athleten und Betreuern wichtig, sagt Sportmediziner Bloch. Dazu möchte auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) beitragen. „Als Dachorganisation müssen wir da eine sehr hohe Flughöhe einnehmen, was bedeutet, dass wir insgesamt den Wissensstand im Gesamtsystem heben müssen und die Zusammenarbeit im Netzwerk verbessern helfen“, sagt Birte Steven-Vitense, Leiterin im Bereich Gesundheitsmanagement beim DOSB. Tagungen für Sportmediziner, Ernährungswissenschaftler und Trainer, aber auch für Managementpersonal sollen über Essstörungen aufklären.
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Turnerin Kim Bui berichtete in der ARD-Doku „Hungern für Gold“ über ihre Bulimie.
© Quelle: IMAGO/Christian Einecke
Turnerin Kim Bui half damals eine Trainerin, der ihr Verhalten auffiel und die sie aufforderte, sich Hilfe zu holen. „Das war hart, aber es war auch erleichternd“, sagt Bui, die sich daraufhin in Behandlung begab. Die Potsdamer Para-Schwimmerin Schwarz erklärte, sie habe sich bei der Verfolgung eines Körperideals „verrannt“. Ein Moment öffnete ihr jedoch die Augen. „Ich war so dünn und hatte dermaßen schlechte Hormonwerte im Blut, dass mir die Sporttauglichkeit entzogen wurde. Erst darauf habe ich reagiert und mich mit therapeutischer Hilfe aufgepäppelt. Es wurde gedroht, mir etwas wegzunehmen, das ich liebe. Die Leidenschaft zum Leistungssport hat mir also den Hintern gerettet – sonst hätte ich mich wohl zu Tode gehungert.“
DOSB plant bessere Gesundheitschecks und forscht
Der DOSB will in jährlich verpflichtenden Gesundheitschecks für alle Kaderathleten an einem von 27 Untersuchungszentren deutschlandweit Probleme frühzeitig erkennen. „Das System existiert seit sehr vielen Jahren und dient der Gesunderhaltung der Athleten“, erklärt Sportpsychologin Steven-Vitense. Auch wenn der Verdacht auf eine Essstörung nicht immer direkt zu einer Sportuntauglichkeit führe, gebe es in jedem Fall eine Weiterleitung an Fachpersonal.
„Auch die besten Systeme und unsere Arbeit werden Essstörungen nie 100 Prozent verhindern können. Durch Präventionsansätze und Schulungsmaßnahmen können wir aber auf allen Ebenen sensibilisieren und damit hoffentlich die Fallzahlen verringern“, sagt Steven-Vitense. Dabei sollen auch immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse in die Arbeit einfließen. Aktuell arbeite der DOSB etwa in Tübingen im Zuge der Athletenchecks mit Ernährungsfragebögen. Erkenntnisse daraus sollen zukünftig im Umgang mit Essstörungen und Leistungssport helfen.
Schwarz über Depression: „Jeder Tag ist ein Kampf“
Für Maike Naomi Schwarz sei derweil weiterhin „jeder Tag ein Kampf“ um die Rückkehr zur früheren Normalität, wie sie unlängst im Gespräch mit dem rbb sagte. 2021 hatte sich die Athletin für mehrere Monate in stationäre psychologische Behandlung begeben, ein Start bei den Paralympics in Tokio war unmöglich.
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Kämpft um ihre Rückkehr in die Weltspitze und zur früheren Normalität: Maike Naomi Schwarz.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Inzwischen tastet sie sich langsam zurück in den Schwimmsport. „Der Wunsch und das Ziel ist, im nächsten Jahr wieder an das Niveau heranzukommen, an dem ich mal war: Weltspitze“, sagte Schwarz dem rbb. Die Depressionen und Essstörungen zu überwinden, ist bei ihr mit dem Traum vom erneuten Sporterfolg verknüpft, es treibt an, denn: „Ich habe mehr verdient als dieses Ende meiner sportlichen Karriere, das muss ich mir selbst einfach schenken.“
MAZ