Im RND-Interview

Stadtwerke-Chef in der Energiekrise: „Wir brauchen einen Aufbruchfonds“

Ein Mitarbeiter der Stadtwerke Kiel führt an den Leitungen des Gasspeichers der Stadtwerke Messungen durch.

Ein Mitarbeiter der Stadtwerke Kiel führt an den Leitungen des Gasspeichers der Stadtwerke Messungen durch.

Frankfurt am Main. Michael Ebling (SPD) ist seit 2012 Ober­­bürger­­meister der Stadt Mainz und seit 2016 Präsident des Stadt­werke­-Verbandes VKU. Im RND-Interview fordert Ebling einen milliardenschweren „Aufbruchfonds“: zur Entlastung der Bürger und zur Sicherung von Unternehmen. Ferner brauche es einen Schutzschirm für Stadtwerke. Hinzukommen müsse das „Entfachen der Energiewende“.

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Herr Ebling, wissen Sie wie die Stadtwerke mit den Energie­preisen, die außer Rand und Band sind, zurecht­kommen? Wird da jeden Tag neu gerechnet, wie hoch die Erhöhungen sein müssen, um im nächsten Jahr über die Runden zu kommen?

Wir sind in einer sich dynamisch verändernden Marktlage, in einer Sandwich­position zwischen der Aufgabe, auf der einen Seite Gas bei den Importeuren zu beschaffen, und auf der anderen Seite den Kunden das Gas zu liefern, was sie bestellt haben. Was uns derzeit noch einigermaßen entlastet, ist die langfristige Beschaffungs­strategie mit verlässlichen Preisen über bis zu drei Jahre. Das führt zu einer gedämpften und verzögerten Weitergabe der Preissprünge. Aber es treibt im Moment alle Stadtwerke um, dass man in ein gravierendes Problem hineinlaufen könnte.

Zunächst einmal: Was bedeutet das für die Kunden? Wie hoch werden die Zusatz­belastungen ausfallen?

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Unterschiedlich. Weil bei jedem Stadtwerk die alten Beschaffungs­verträge zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Volumina auslaufen. Diese Verträge müssen sukzessive neu ausgehandelt werden – mit erheblich höheren Preisen. Bei Gas kommen nun die Umlagen hinzu, deren Höhen sich regelmäßig ändern können. Das wird zu häufigeren Preis­änderungen als bisher führen. Bislang wussten die Strom- und Gaskunden spätestens mit dem Jahreswechsel, was auf sie in den folgenden Monaten zukommt. Das wird sich 2023 leider ändern.

Tarife für Gas und Strom werden sich mindestens verdoppeln

Beim Gas sind nach Berechnungen von Experten bislang Erhöhungen von 80 Prozent im Schnitt erkennbar. Mit welchen Aufschlägen müssen die Kunden am Ende rechnen?

Mindestens von einer Verdoppelung muss man ausgehen oder mehr. Das betrifft sowohl Gas als auch Strom.

Und wo ist jetzt das Problem der Stadtwerke?

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Alle schauen auf die Energiebörsen. Aber der außerbörsliche Handel, den fast alle Stadtwerke betreiben, wurde bislang nicht in den Blick genommen. Da kann es sehr schnell zu Liquiditäts­eng­pässen bei den Stadtwerken kommen. Hinzu kommen die gestiegenen Beschaffungs­kosten und drohende Zahlungs­ausfälle bei den Kunden. Die aktuelle Lage ist hochtoxisch. Auch die gesündesten kommunalen Unternehmen könnten an Grenzen kommen. Es drohen Insolvenzen.

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Aber mit der umstrittenen Gasumlage sollte doch zumindest die Versorgung gesichert werden, indem die Gasimporteure – also die Lieferanten der Stadtwerke – subventioniert werden?

Aber wir sehen jetzt, dass ein hoher zusätzlicher finanzieller Aufwand durch den Staat nötig ist, um die Verbraucher vor Preisen zu schützen, die sie nicht mehr bezahlen können. Es geht um nichts Geringeres als unser demokratisches und freies Gesellschafts­system und unsere Wirtschafts­ordnung vor dem Einsatz von Erdgas als politische Waffe zu schützen. Wir sehen nicht nur Markt­verzerrungen und Preissprünge, sondern den Versuch, unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Wir spielen alle in diesem Drama mit, aber es ist das falsche Drehbuch, nämlich das des russischen Präsidenten.

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Warum drohen die Insolvenzen?

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Die Stadtwerke beschaffen ihr Gas – überspitzt gesagt – mittels einer kleinen Telefonliste, auf der die Großhändler verzeichnet sind. Die Einkäufer der Stadtwerke müssen derzeit mit massiven Preis­unterschieden jonglieren, die häufig an einem einzigen Tag auftreten. In dieser sehr volatilen Situation verlangen die Großhändler erheblich höhere finanzielle Sicherheiten von den Stadtwerken als noch vor wenigen Wochen. Das können zu hinterlegende finanzielle Mittel sein, das können Bürgschaften von Banken oder der kommunalen Eigentümer sein. Und da werden in der gegenwärtigen Situation mitunter Grenzen erreicht, an denen Stadtwerke die Sicherheiten in der Größenordnung nicht leisten können, die von ihnen verlangt werden.

Wie stark machen diese hohen Preise auch Unternehmen zu schaffen?

Seit einigen Tagen ist in der Industrie und im Mittelstand zu erkennen, dass vielfach die Produktion herunter­gefahren wird, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Die Frage ist: Wie soll die Bundesregierung darauf antworten?

Wie denn?

Es fehlt ein klares Signal von der Bundesregierung, dass man diese außer Kontrolle geratene Situation bändigen will. Es fehlt auch das Signal, die Stadtwerke als wichtigen Teil der Daseinsvorsorge zu schützen. Bislang gibt es vor allem viel Klein-Klein. Wie zum Beispiel die Debatte darüber, wie viel der Nachfolger des 9‑Euro-Tickets kosten soll. Zum „You’ll never walk alone“ des Bundeskanzlers muss ein „Whatever it takes“ kommen. Wir müssen uns als deutsche Volks­wirtschaft mit aller Macht dem Angriff entgegen­stellen.

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Mehr als 100 Milliarden Euro für einen Auf­bruch­fonds

Worauf läuft das alles hinaus?

Was im Moment zur Bewältigung der Energiekrise geschieht, ist in allen Dimensionen nicht ausreichend. Wir brauchen einen Aufbruch­fonds, der mit stattlichen Milliarden­summen ausgestattet werden muss – zur Entlastung der Bürger und zur Sicherung von Unternehmen. Ferner braucht es einen Schutzschirm für Stadtwerke zur Gewähr­leistung der Daseins­vorsorge. Hinzukommen muss das vielzitierte Entfachen der Energiewende.

Also 100 Milliarden Euro für den Aufbruchfonds?

Wir werden mit Sicherheit mehr als 100 Milliarden Euro dafür benötigen.

Wie soll ein Schutzschirm für Stadtwerke funktionieren?

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Im Moment ist zwischen Bund und Ländern Mikado spielen angesagt. Beide Seiten wissen, worum es geht, und sie hoffen, dass der jeweils andere sich als Erster bewegt. Das Mikado muss beendet werden, denn es kann sehr schnell ernst werden mit den Insolvenz­gefahren für Stadtwerke. Würde ein Grund­versorger insolvent, würde der Versorger, der dann die meisten Haushalts­kunden im jeweiligen Grund­versorgungs­gebiet beliefert, der neue Grundversorger und müsste alle grund- und ersatz­versorgten Kunden inklusive aller wirtschaftlichen Risiken übernehmen. Das kann sich als Ketten­reaktion fortsetzen.

Um das zu verhindern, müssen Bund und Länder die Köpfe zusammenstecken und sich einen Schutz­schirm­mechanismus überlegen. Das kann bedeuten, dass Liquidität für angeschlagene Stadtwerke zur Verfügung gestellt wird. Das kann mit Bürgschaften der Länder oder des Bundes umgesetzt werden. Auch Zuschüsse könnten notwendig werden, wenn zu viele Kunden ihre Strom- und Gas­rechnung nicht mehr bezahlen können. Wichtig wäre auch ein Insolvenz­moratorium, wie wir es bereits in der Pandemie hatten. Die gesamte Debatte über die Nachfolge des 9‑Euros-Ticket-Schlagers wird angesichts dieser Bedrohung zum Treppenwitz.

Wieso?

Stadtwerke stemmen über Quer­subventionen die Hauptlast zur Finanzierung des ÖPNV. Wenn zum Beispiel der Energieversorger in Mainz in die Knie ginge, würde als Erstes der Bereich des ÖPNV, der Fehlbeträge erwirtschaftet, ausgedünnt oder sogar gestoppt werden. Dann würden im schlimmsten Falle in Mainz und im Umland von einem Tag auf den anderen keine Busse mehr fahren. In so einem Fall müsste dann die Kommune entscheiden, ob sie ihrem Stadtwerk finanzielle Mittel zur Verfügung stellt.

Die Steuereinnahmen von Städten und Gemeinden sind im ersten Halbjahr – auch wegen der hohen Inflation – massiv gestiegen. Da muss doch einiges möglich sein.

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Den Kommunen geht es unterschiedlich gut. Manche können sich Hilfen für ihr Stadtwerk leisten, aber viele Städte und Gemeinden können das alleine ganz bestimmt nicht. Und wenn wir vom Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebens­verhältnisse ausgehen, dann kann man die Folgen eines Energie­preis­schocks nicht von regionaler Leistungs­fähigkeit abhängig machen. Das widerspricht meinem Verständnis von Daseinsvorsorge. Wenn das ins Wanken kommt, kommt das ganze Land ins Wanken.

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Kann es im schlimmsten Fall auch so weit kommen, dass nicht nur die Busse im Depot bleiben, sondern dass auch die Gas- oder Strom­versorgung zusammen­bricht?

Leider kann man inzwischen solche Möglichkeiten nicht mehr ausschließen. Wenn ein Versorger insolvent würde, dann besteht die Gefahr, dass sein Gasgroßhändler oder ein Stromerzeuger seine Lieferungen einstellt, weil er befürchtet, dass er dafür nicht mehr bezahlt wird.

Haben Sie das Gefühl, dass die Bundes­regierung den Ernst der Lage erkannt hat?

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In der politischen Diskussion brauchen wir zu viel Zeit, um Wege zum Entlasten der Bürger zu finden. Da benötigen wir schnelle Wege. Also direkte Zahlungen und höheres Wohngeld. Die Industrie müssen wir schnell entlasten. Wir müssen auch den lokalen Energie­wende­machern finanzielle Mittel geben, um den Ausbau der Erneuerbaren und der Netze schnell voranzubringen. Also stabilisieren und gezielt investieren, nicht verzetteln und nicht weiter verzwergen: Wir fokussieren uns zu sehr auf Neben­schau­plätze. Zum Beispiel die Debatte über öffentliche Beleuchtung. Bei allem Verständnis dafür, die öffentliche Beleuchtung zu dimmen, können wir Städte nicht komplett dunkel machen. Als in den Tagesthemen berichtet wurde, dass der Bundestag jetzt auch nachts dunkel ist, da war ich entsetzt. Dieses Symbol der Demokratie muss in diesen Zeiten hell erstrahlen!

Und wie halten Sie es mit den Mainzer Hallenbädern?

Wir werden die Temperaturen verringern. Ich kann aber nicht ausschließen, dass es zur Reduzierung des öffentlichen Angebots der Hallenbäder kommen wird, denn ansonsten können wir kaum unseren Gasverbrauch um 15 Prozent oder gar 20 Prozent drücken, so wie es die Bundes­regierung anstrebt.

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