Ruhe an Weihnachten: Die große Sehnsucht nach Stille – und warum sie so wichtig ist

Lärm im Alltag stört die Konzentrations­fähigkeit und kann sogar krank machen. Es ist wichtig, sich immer wieder Zeiten der Stille zu gönnen.

Lärm im Alltag stört die Konzentrations­fähigkeit und kann sogar krank machen. Es ist wichtig, sich immer wieder Zeiten der Stille zu gönnen.

Der Fernseher läuft, irgendeine Werbung zappelt auf dem Schirm und dann noch eine und noch eine Reklame. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers gilt längst nicht mehr dem Bild- und Tongewusel auf dem Schirm, sondern einem Kreuzworträtsel. Doch dann merkt er auf, denn plötzlich ist da: nichts. Kein Ton. Kein Wort. Keine Musik. Ein Werbespot sendet Stille – und erntet Aufmerksamkeit.

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In unserer von piepsen, klingeln, summen, vibrieren, von Autorauschen, Dudelsendern, Lastwagenbrummen, Baustellengehämmer und Laubbläserblasen durchlärmten Welt bedeutet Stille eine absolute Ausnahme. Sie ist heute kaum mehr als eine äußerst seltene Abwesenheit von Lärm. Doch die Sehnsucht nach stillen Momenten wächst.

Eine Insel der Ruhe im Meer des Lärms

Stille Nacht – gerade das Weihnachtsfest verbinden wir in unserer Idealvorstellung mit Ruhe, Entschleunigung, Erholung von all dem Trubel, der uns das Jahr über begleitet. Arbeit, Familie, selbst Freizeit können ja Stress bedeuten – und erst recht die Pandemie. Da klingt ein ruhiges Christfest wie eine Verheißung, wie eine Insel der Ruhe im Meer des Lärms. Doch zwischen Ideal und Wirklichkeit klaffen auch hier Welten, und die sind sehr laut, hektisch und unangenehm.

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„Wenn die stille Zeit vorbei ist, dann wird es auch endlich wieder ruhiger“, schrieb der Komiker Karl Valentin vor einer Ewigkeit. In diesen Zeilen steckt mehr als nur ein Wortwitz. Die wahrhaft ruhevolle Zeit beginnt erst, wenn das Fest vorbei ist. Der zweite Weihnachtstag ist bei manchen der Zeitpunkt, an dem der Stress abfällt. Für manche hingegen bedeutet auch dieser Tag noch, Besuch zu empfangen oder selbst zur Verwandtschaft zu fahren. Die wahre Periode der Stille sind die Tage zwischen den Jahren – wenn man das Glück hat, nicht arbeiten zu müssen. Das Land scheint heruntergefahren zu sein wie ein Laptop im Ruhezustand. Ein bisschen blinkt es noch, aber es herrscht Pausenstimmung.

Warum aber ist Stille überhaupt so wichtig? Und ist sie immer sofort zu genießen, wenn sie denn endlich mal eintritt?

75 Prozent der Deutschen fühlen sich laut einer Umfrage des Statistikportals Statista aus diesem Jahr durch Verkehrslärm belästigt. Aber Lärm ist nicht nur störend, er gefährdet die Gesundheit. „Er aktiviert das autonome Nervensystem und das hormonelle System. Als Folge kommt es zu Veränderungen bei Blutdruck, Herzfrequenz und anderen Kreislauffaktoren“, erklärt das Umweltbundesamt. Zu den möglichen Langzeitfolgen chronischer Lärmbelastung gehören demnach neben Gehörschäden auch Veränderungen bei biologischen Risikofaktoren wie Blutfetten, Blutzucker und Gerinnungs­faktoren. Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Arterien­verkalkung, Bluthochdruck und bestimmte Herzkrankheiten einschließlich Herzinfarkt können ebenfalls durch Lärm verursacht werden.

„Es gibt typische Stressfolge­krankheiten wie Depressionen oder das sogenannte Burn-out“, sagt auch Mazda Adli. Der Charité-Professor und Psychiater erforscht seit vielen Jahren Stress vor allem in Großstädten. „Diese Krankheiten sind typische Spätfolgen, wenn über längere Zeit eine starke Belastung ohne Aussicht auf Entlastung auf den Menschen einwirkt. Wir sprechen hier von chronischem Stress, und deswegen ist es auch im Alltag gut, für Stilleperioden zu sorgen.“

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Den Blick auf uns selbst richten

Adli hält ebenfalls nicht nur die Weihnachtstage, sondern vor allem die Zeit zwischen den Feiertagen und Silvester für geeignet, um „den Blick auf uns selbst zu richten. Wir können in diesen Tagen den eigenen Wertekompass mal wieder ausrichten und uns in Ruhe fragen, was uns wichtig ist im Alltag, im eigenen Leben.“

Doch das Horchen ins Innere kann ungewohnt, ja, anstrengend sein. So mancher fühlt sich hilflos, wenn die Ablenkung wegfällt und er oder sie auf sich selbst zurückgeworfen ist. „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung“, schrieb der französische Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert. Ja, aber!

Charité-Professor und Psychiater: Mazda Adli.

Charité-Professor und Psychiater: Mazda Adli.

Ja, aber wer dieses anfänglich vielleicht unangenehme Gefühl überwinden kann, in sich hineinzuhören und seine Gedanken, seine Ängste, seine Wünsche genau zu vernehmen vermag, wird häufig einen Gewinn daraus ziehen. Da spricht ja kein Fremder zu mir, sondern ich bin es, der spricht. Und ich bin es auch, der zuhört. „Vielen bedeutet Stille ein Innehalten, das ermöglicht, sich selbst mal ein Ohr zu schenken. Und genau das brauchen wir für unser emotionales Wohlbefinden“, sagt Adli.

Stille bedeute schließlich auch, „dass wir uns für eine kurze Periode von der üblichen Betriebsamkeit lösen und dadurch etwas Distanz zum Alltag bekommen. Damit können wir ‚emotional entlüften‘ und wieder eine größere Nähe zu unserem eigenen Befinden gewinnen“, sagt Mazda Adli weiter. „Psychologisch gesehen stärkt das unser psychisches Wohlbefinden und stabilisiert damit unsere psychische Gesundheit.“

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Im Rahmen von Psychotherapien leiten er und sein Team Patientinnen und Patienten an, sich Zeit für Stilleperioden zu nehmen, sagt der 52-jährige gebürtige Kölner. „Damit meine ich nicht, tagelang in einem Kloster zu wandern, sondern im eigenen Alltag kleine Episoden einzuplanen. Das können auch nur wenige Minuten sein, in denen man bewusst alles ablegt, die Tür schließt und sich selbst eine Auszeit verschafft.“

Mittlerweile buchen viele Stressgeplagte Auszeiten in Klöstern oder Häusern der Stille und geben dafür viel Geld aus. Die Stille ist ein eigener Tourismusfaktor geworden, ein Luxus, den sich immer mehr Menschen gönnen wollen. Doch was ist das eigentlich genau, Stille? Auf jeden Fall nicht die vollständige Abwesenheit von Geräuschen. Denn das kann ein Mensch nicht lange ertragen.

Der angeblich stillste Ort der Welt, eine reflexionsarme Kammer in den Orfield Laboratories in Minneapolis, ist auf minus 9,4 Dezibel heruntergeregelt. Die Zeitschrift „The Reporter“ berichtet, dass niemand es dort jemals länger als 45 Minuten ausgehalten hat. Bei einer solchen Camera silens handelt es sich zumeist um einen vollständig dunklen und schallisolierten Raum. Wer sich dort länger aufhält, muss mit Halluzinationen und anderen Beeinträchtigungen der Wahrnehmungs­fähigkeit rechnen. Diese absolute Stille wird auch als Folter eingesetzt und zählt, da sie keinerlei sichtbare Spuren hinterlässt, zu den sogenannten weißen Foltermethoden.

Unter gesunde Stille hingegen fällt das Gezwitscher von Vögeln, das Rascheln von Baumwipfeln, das Rauschen des Meeres. Ruhige Orte finden sich sogar in Großstädten, man muss nur wissen, wo sich diese Oasen – Parks, Waldstücke, Plätze, Flussufer – befinden. Die App „Hush City“, die auf Schwarmintelligenz und Beteiligung setzt, hilft bei der Suche nach Ruhe. Allerdings kann man davon ausgehen, dass nicht jeder Stillefan seinen Lieblingsort preisgibt, um ihn dann mit lauter lauten Leuten teilen zu müssen.

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DJ Hans Nieswandt schätzt die Stille

Beruflich mit viel lauter Musik zu tun hat DJ-Ikone Hans Nieswandt. Der Kölner meldet sich aus Seoul, Südkorea, wo er mittlerweile lebt. Seit Anfang der Neunziger begeistert Nieswandt Freunde von Disco, House und Techno mit seinen Mixes. „Als DJ und Musikproduzent bedeutet für mich Stille vor allem die Abwesenheit von Musik und damit ein Abkühlen der Ohren. Diese Art von Stille ist mir mit den Jahren immer wichtiger geworden und nimmt immer mehr Zeit ein“, schreibt Nieswandt auf Anfrage in einer Mail. Musik sei für ihn nie Hintergrund­berieselung, sondern er beschäftige sich mit Musik allumfänglich, wenn er sie höre. „Da ich aber sowieso fast immer irgendeine Art von Musik im Kopf habe, wird es dort nur dann wirklich richtig still, wenn ich zum Beispiel Texte verfasse – es gibt Leute, die können sogar dabei Musik hören, für mich völlig undenkbar und rätselhaft, wie das funktionieren soll.“

DJ-Ikone Hans Nieswandt. Über seine Orte der Clubszene hat er mit „Disko Ramallah“ ein schönes Buch geschrieben.

DJ-Ikone Hans Nieswandt. Über seine Orte der Clubszene hat er mit „Disko Ramallah“ ein schönes Buch geschrieben.

Nieswandt findet Stille aber nicht nur beim Schreiben, sondern auch in der Natur. „Wandern ist ebenfalls ein wunderbarer Weg, um eine gewisse innere und äußere Stille zu finden, am besten möglichst steil auf und ab. Dann muss man sich so auf die Atmung und die Schritte konzentrieren, sodass man sich das Vogelgezwitscher, das Blätterrauschen und all die anderen Sounds nicht gleich wieder als – meistens sehr schöne – Musik anhört.“

Stillemomente braucht der DJ besonders direkt nach einem Auftritt. „Da muss ich immer erst mal für eine Weile raus aus der Musik, was aber auch mit der zum Teil enormen Lautstärke der Monitorboxen zu tun hat.“ Ob er genügend Zeit mit Stille verbringt? „Im Prinzip ja, zumindest könnte ich mir das einrichten. Leider ist aber meine Neugier nach neuer, von mir noch nie gehörter Musik nach wie vor so groß, dass ich mir Tag für Tag dann doch so viele Sachen anhöre, bis ich einen gewissen Erschöpfungs­zustand erreicht habe. Der Rest ist Stille.“

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